Entscheidungsstichwort (Thema)
Diesel-Skandal: Bemessung des Differenzschadens bei Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht
Leitsatz (amtlich)
Ein "Thermofenster", bei dem bei betriebswarmen Motor zwischen -10°C und +49°C keine außentemperaturabhängigen Reduktionen der Abgasrückführungsraten erfolgen, stellt keine Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 dar.
Normenkette
EGV 715/2007 Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
LG Gießen (Urteil vom 29.06.2021; Aktenzeichen 1 O 34/20) |
Tenor
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.
1. Die Berufung der Klägerin gegen das am 29. Juni 2021 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Gießen wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits im zweiten Rechtszug zu tragen.
3. Das angefochtene Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Gießen vom 29. Juni 2021 sowie dieses Urteil sind vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Von einer Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil und von der Darstellung etwaiger Änderungen und Ergänzungen wird gemäß den §§ 540 Abs. 1, 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.
II. Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Das angefochtene Urteil beruht weder auf einer Rechtsverletzung noch rechtfertigen nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung (vgl. § 513 Abs. 1 ZPO).
Das Landgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass der Klägerin gegen die Beklagte keine Ansprüche zustehen.
a. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch aus § 826 BGB.
Nach dieser Bestimmung ist derjenige, der in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (vgl. etwa BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, BGHZ 225, 316, 321 f.; Urteil vom 16.09.2021 - VII ZR 321/20 -, juris, jeweils m. w. Nachw.). Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, welche die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, BGHZ 225, 316, 321 f.; Urteil vom 16.09.2021 - VII ZR 321/20 -, juris; Beschluss vom 13.10.2021 - VII ZR 99/21 -, BeckRS 2021, 38651; Senat, Urteil vom 21.12.2021 - 26 U 55/21 -, juris). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (vgl. etwa BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, BGHZ 225, 316, 321 f.; Urteil vom 16.09.2021 - VII ZR 321/20 -, juris; Urteil vom 16.09.2021 - VII ZR 190/20 -, NJW 2021, 3721; Beschluss vom 13.10.2021 - VII ZR 99/21 -, BeckRS 2021, 38651).
Nach diesen Grundsätzen reicht der Umstand, dass die Abgasrückführung im Fahrzeug der Klägerin nach ihrem Sachvortrag durch eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems bei einstelligen Außentemperaturen nicht mehr voll funktionsfähig ist, nicht aus, um dem Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen ein sittenwidriges Gepräge zu geben (vgl. etwa BGH, Urteil vom 16.09.2021 - VII ZR 321/20 -, juris; Urteil vom 16.09.2021 - VII ZR 190/20 -, NJW 2021, 3721, 3722; OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 04.03.2022 - 26 U 55/20 -, juris).
Dabei kann zugunsten der Klägerin in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unterstellt werden, dass eine derartige temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren ist (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 17.12.2020 - C-693/18 -, NJW 2021, 1216; s. dazu näher unter II 1b). Der darin ggf. liegende Gesetzesverstoß ist aber für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz dieser Steuerungssoftware durch die für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedürfte es vielmehr weiterer Umstände (vgl. etwa BGH, Urteil vom 20.07.2021 - VI ZR 1154/20 -, NJOZ 2021, 1517, 1518; Urteil vom 16.09.2021 - VII ZR 321/20 -, juris; Urteil vom 16.09.2021 - VII ZR 190/20 -, NJW 2021, 3721). So setzt die Annahme von Sittenwidrigkeit in diesen Fällen jedenfalls vor...