Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, wann sich ein Versicherungsnehmer der Kenntnisnahme von gefahrerhöhenden Umständen arglistig entzieht.
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 27.02.2004; Aktenzeichen 2-22 O 529/03) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 22. Zivilkammer des LG Frankfurt/M. vom 27.2.2004 abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 9.078,71 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der Deutschen Bundesbank seit dem 17.9.2003 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagten ein Rückgriffsanspruch gegen die Klägerin i.H.v. 5.112 EUR aus dem Verkehrsunfall vom 18.8.2003 nicht zusteht.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die Klägerin begehrt Versicherungsschutz in der Kasko- und Haftpflichtversicherung wegen eines Verkehrsunfalls vom 18.8.2003, bei dem bei regennasser Straße das vom Ehemann der Klägerin gesteuerte Fahrzeug auf der Autobahn ins Schleudern geriet, gegen einen Lkw und die Leitplanke schleuderte und zerstört wurde. Die Beklagte verweigert Versicherungsschutz, weil die Hinterreifen in der Mitte der Lauffläche und innen kein Profil mehr aufwiesen.
Die Klägerin bestreitet, diesen Zustand gekannt oder arglistig vor ihm die Augen verschlossen zu haben; die blanken Reifen hätten auf den Unfall auch keinen Einfluss gehabt, weil das Fahrzeug über das rechte Vorderrad ausgebrochen sei.
Das LG hat die Klage abgewiesen, weil abgefahrene Reifen eine Vermutung begründeten, dass der Versicherungsnehmer davon Kenntnis habe und die Klägerin sich jedenfalls der Kenntnisnahme arglistig entzogen habe. Der Kausalitätsgegenbeweis sei nicht zu erheben, weil ein Sachverständiger den Unfall nicht mehr, auch nicht anhand einer Unfallschilderung des Ehemanns, rekonstruieren könne.
Hiergegen richtet sich die Berufung, mit der die Klägerin insb. die Feststellung bekämpft, sie habe den Reifenzustand gekannt bzw. sich seiner Kenntnis arglistig verschlossen.
Die Berufung ist begründet.
Es handelt sich um einen tiefergelegten X mit Heckschürze, bei dem die Hinterräder, wie das LG zutreffend festgestellt hat, nicht mit einem Blick von der Seite in die Radhäuser, sondern nur vom Heck her in ganzer Breite wahrgenommen werden können, wenn man sich hinkniet, um unter das Fahrzeug zu schauen. Es ist daher möglich, dass der Klägerin der Zustand der Reifen verborgen geblieben ist. Am äußeren sichtbaren Rand hatten die Hinterreifen noch Profil. Es fehlte erst weiter zur Mitte hin; dieser Bereich war aber bei flüchtiger Betrachtung des Fahrzeugs von der Seite nicht so gut einsehbar, dass die Klägerin ihn zwangsläufig wahrnehmen musste. Es kommt hinzu, dass die wesentlich besser einsehbaren Vorderräder normales Profil aufgewiesen haben. Für die von dem LG angenommene Vermutung gibt es keine Grundlage.
Der Senat vermag auch der Würdigung des LG, die Klägerin habe sich der Kenntnisnahme arglistig entzogen, nicht beizutreten. Arglist erfordert die Feststellung, dass der Versicherungsnehmer mit einer Gefahrerhöhung rechnen muss und gerade deshalb keine Überprüfung vornimmt (BGH v. 26.5.1982 - IVa ZR 76/80, MDR 1982, 996 = VersR 1982, 793; Römer, § 23 Rz. 35; Prölss/Martin, § 23 Rz. 35; OLG Köln v. 29.3.1990 - 5 U 161/89, VersR 1990, 1226; OLG Koblenz v. 12.7.1996 - 10 U 1518/95, VersR 1997, 303; OLG Hamburg v. 14.2.1995 - 7 U 123/94, VersR 1996, 1095; OLG Düsseldorf r + s 2004, 407). Das hat das LG nicht festgestellt. Dafür bieten die Umstände auch keine ausreichenden Anhaltspunkte. Auch wenn die Unkenntnis der Klägerin vom Reifenzustand darauf schließen ließe, dass sie die Reifen seit längerer Zeit nicht kontrolliert hat, bedeutet dies noch nicht, dass sie davon Abstand nahm, um eine befürchtete Abnutzung der Reifen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Klägerin hat unwiderlegt vorgetragen - wovon auch das LG ausgeht -, dass sie im Mai 2003 einen der Hinterreifen in einer Werkstatt montieren ließ, weil sich die Muttern des Winterreifens nicht hatten lösen lassen. In der Werkstatt habe man sie nicht auf mangelndes Profil aufmerksam gemacht. Dann musste die Klägerin aber nicht im August damit rechnen, dass die Reifen völlig abgefahren waren. Jedenfalls kann daraus nicht gefolgert werden, dass sie mit einem gefährlichen Zustand der Reifen rechnete und dies bewusst nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Hinzu kommt, dass die Reifen unterschiedlich abgefahren sind, was darauf beruhen kann, dass sich der Sturz verändert hatte. In solchen Fällen können Reifen sehr schnell Profil verlieren. Da Sommer- und Winterreifen im Wechsel benutzt wurden, kann auch nicht aus dem Alter bzw. der Laufleistung des Fahrzeugs zwingend geschlossen werden, die Klägerin habe mit einer baldigen Abnutzung rechnen müssen.
Der Klägerin bzw. ihrem Ehemann - unabhängig davon, ob es sich bei ihm um einen Repräsentanten handelt - kann auch nicht grobfahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls vorgeworfen werden, weil die Hinterreifen über mehrere Monate nicht kontrolliert ...