Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung des Auftragnehmers wegen verspäteten Abrufs der Bauleistung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Bauvertragspartner kann den Vertrag aus wichtigem Grund kündigen, wenn der andere Bauvertragspartner seine Vertragspflichten grob verletzt hat, etwa dadurch, dass er seinerseits unberechtigt gekündigt hat.

2. Das Kündigungsrecht des Auftragnehmers nach § 6 VII VOB/B setzt nicht voraus, dass mit den Arbeiten bereits begonnen worden ist. Es reicht auch aus, dass sich der vertraglich vorgesehene Beginn um mehr als drei Monate hinausschiebt.

3. Eine den Baubeginn nicht fixierende, sondern vom Abruf des Auftraggebers abhängig machende Regelung ähnlich § 5 II VOB/B ist regelmäßig als Bestimmungsrecht nach billigem Ermessen zu verstehen. Der Bauunternehmer wird durch ein derartiges Abrufrecht nicht unangemessen benachteiligt.

4. Wann ein Hinauszögern des Leistungsabrufs durch den Auftraggeber nicht mehr billigem Ermessen entspricht, sondern für den Auftragnehmer unzumutbar ist, hängt von den Gegebenheiten des Einzelfalls ab. Bei einem Bauvorhaben erheblichen Umfangs (hier: drei Mehrfamilienhäuser) kann jedenfalls ein Abruf binnen drei Monaten nach dem im Vertrag unverbindlich angegebenen "Circa"-Baubeginn noch ermessensfehlerfrei sein.

5. Der Auftraggeber, der wirksam aus wichtigem Grund gekündigt hat, kann vom Auftragnehmer einen abzurechnenden Vorschuss auf die Mehrkosten der Fertigstellung verlangen.

6. Zu den zu erstattenden Mehrkosten können auch solche infolge von Mehrmengen und Nachtragsforderungen des Ersatzunternehmers gehören, wenn dieselben Nachforderungen bei dem gekündigten Auftragnehmer gemäß seiner Kalkulationsgrundlage oder aufgrund der zuvor vereinbarten Einheitspreise billiger gewesen wären.

7. Der Auftraggeber ist nach Treu und Glauben gehalten, bei der Auswahl des Ersatzunternehmers den Mehraufwand in vertretbaren Grenzen zu halten. Das heißt aber nicht, dass er ein neues Ausschreibungsverfahren einzuleiten hat. Vielmehr kann er, falls die Möglichkeit besteht, einen Bieter als Ersatzunternehmer gewinnen, der bei der ursprünglichen Ausschreibung mit seinem Angebot in der engeren Wahl lag.

8. Eine abstrakte Verzinsung des verauslagten Gerichtskostenvorschusses im Sinne des § 288 Abs. 1 BGB kommt nur dann in Betracht, wenn der Schuldner nicht nur mit der Hauptforderung, sondern auch mit dem materiellen Kostenerstattungsanspruch selbst in Verzug ist.

 

Normenkette

BGB §§ 254, 288 Abs. 1, § 307; VOB/B § 6 Abs. 7, § 8 Abs. 3, § 9 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Urteil vom 22.04.2016; Aktenzeichen 2-20 O 215/14)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 22.04.2016 verkündete Urteil des LG Frankfurt am Main wie folgt abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 37.233,14 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 07.05.2014 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weiter gehende Berufung wird zurückgewiesen.

2. Von den Kosten des Rechtsstreits der ersten Instanz haben die Klägerin 14 % und die Beklagte 86 % zu tragen. Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin 10 % und die Beklagte 90 % zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die vollstreckende Gegenpartei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird für die Klägerin zugelassen, soweit der Klagantrag zu Ziffer 2. (Verzinsung des Gerichtskostenvorschusses) abgewiesen wurde. Im Übrigen wird die Revision nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt von der Beklagten Ersatz für Mehrkosten nach der Kündigung eines Bauvertrages sowie die Erstattung von verauslagten Kosten für die Erstellung eines Privatgutachtens.

Die Klägerin ist Bauherrin des Objekts "Neubau X, Stadt1" in Straße1, Stadt1. Mit einem von der Klägerin am 22.04.2013 und von der Beklagten am 29.04.2013 unterschriebenen Vertrag beauftragte die Klägerin die Beklagte mit der Vornahme umfangreicher Fliesenarbeiten.

Nachdem die Klägerin die Arbeiten der Beklagten nicht abgerufen hatte, erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 05.08.2013 die Kündigung des vorbezeichneten Vertrages. Die Klägerin forderte die Beklagte hierauf auf, bis zum 08.08.2013 ihre weitere Bereitschaft zur Leistungserbringung zu erklären. Nachdem die Beklagte dies mit Schreiben vom 07.08.2013 zurückgewiesen hatte, kündigte die Klägerin ihrerseits das Vertragsverhältnis mit Schreiben vom 08.08.2013.

Die Klägerin hat zunächst beantragt:

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin insgesamt 43.045,12 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 07.05.2014 zu zahlen,

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, auf die von der Klägerin für den Antrag zu Ziffer 1 verauslagten Gerichtskosten Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Ba...

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