Leitsatz (amtlich)
Der Widerrufsgrund neuer Straffälligkeit in der so genannten Vorlaufzeit im Sinne des § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB erfasst bei sowohl im erstinstanzlichen als auch im Berufungsurteil gewährter Strafaussetzung zur Bewährung nur solche Anlasstaten, die der Verurteilte nach der letzten tatrichterlichen Aussetzungsentscheidung begangen hat.
Verfahrensgang
LG Hamburg (Entscheidung vom 19.01.2007) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 5, vom 19. Januar 2007 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die darin erwachsenen notwendigen Auslagen des Verurteilten trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Hamburg hat am 29. August 2005 gegen den Verurteilten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, Bedrohung und Beleidigung in drei Fällen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten erkannt und deren Vollstreckung auf die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Auf die im Übrigen verworfene Berufung des Verurteilten hat das Landgericht Hamburg mit Urteil vom 6. Juli 2006 die Gesamtfreiheitsstrafe auf sechs Monate herabgesetzt und die Strafaussetzung zur Bewährung aufrechterhalten; das Berufungsurteil ist am 14. Juli 2006 rechtskräftig geworden. Wegen zwischen dem 9. November und 31. Dezember 2005 begangener neuer Straftaten hat das Landgericht Hamburg, Strafvollstreckungskammer, mit Beschluss vom 19. Januar 2007 die Strafaussetzung widerrufen. Gegen diesen ihm frühestens am 22. Januar 2007 bekannt gemachten Beschluss hat der Verurteilte am 29. Januar 2007 sofortige Beschwerde eingelegt, auf deren Verwerfung die Generalstaatsanwaltschaft angetragen hat.
II.
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist zulässig (§§ 453 Abs. 2 S. 3, 311 Abs. 2 StPO) und begründet. Es fehlt an einem gesetzlichen Grund zum Widerruf der Strafaussetzung.
1.
Der Verurteilte ist nicht in rechtlich beachtlicher Zeit erneut straffällig geworden (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2 StGB).
a)
Allerdings hatte er am 9. November sowie 10., 17. und 31. Dezember 2005 in einem Einkaufszentrum sowie in Zügen und auf einem Haltepunkt der U-Bahn Passanten und Reisenden Geldbörsen, Schmuck, Mobiltelefone, CD-Player und einen Zeitfahrausweis entwendet. Deshalb hat das Amtsgericht Hamburg-St.Georg mit rechtskräftigem Urteil vom 11. Juli 2006 wegen gewerbsmäßigen Diebstahls in sechs Fällen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr drei Monaten erkannt.
Die schuldhaften Tatbegehungen stehen auf Grund des glaubhaften Geständnisses des Verurteilten zur Überzeugung auch des Senats fest.
b)
Die sechs neuen Straftaten von November/Dezember 2005 fallen jedoch weder in die Bewährungszeit (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB), die gemäß § 56 a Abs. 2 S. 1 StGB erst mit Rechtskraft des Berufungsurteils am 14. Juli 2006 zu laufen begonnen hat, noch in die so genannte Vorlaufzeit (§ 56 f Abs. 1 S. 2 StGB), die erst an das Berufungsurteil vom 6. Juli 2006 angeschlossen hat.
§ 56 f Abs. 1 S. 2 StGB bestimmt, dass die Vorschrift über den Widerruf einer Strafaussetzung wegen in der Bewährungszeit begangener neuer Straftat (§ 56 f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB) entsprechend gilt, wenn die Tat in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft begangen worden ist. Dazu, ob damit Anlasstaten nur zwischen der die Strafaussetzung bewilligenden Berufungsentscheidung und deren Rechtskraft oder auch schon ab der die Strafaussetzung erstmals bewilligenden erstinstanzlichen Entscheidung erfasst sind, verhalten sich - soweit ersichtlich - obergerichtliche Rechtsprechung und Schrifttum bisher nicht. Die Auslegung des § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB ergibt, dass die so genannte Vorlaufzeit erst mit der letzten tatrichterlichen Entscheidung beginnt.
aa)
Wortlaut und -sinn ("zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft") lassen eine Anknüpfung sowohl an die - durch die Berufungsentscheidung bestätigte - erstinstanzliche als auch an die letzte tatrichterliche Aussetzungsentscheidung zu.
bb)
Die Regelungszwecke des § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB führen zu keinem einheitlichen Bild.
Zum einen knüpft die Vorschrift daran an, dass eine Gleichstellung mit der Bewährungszeit deshalb angezeigt ist, weil der Betroffene bereits mit der - später durch Rechtskrafteintritt bestätigten - Aussetzungsentscheidung sich darauf einstellen kann, sich bewähren zu müssen (vgl. Groß in MünchKommStGB, § 56 f Rdn. 19; siehe auch BVerfG in NJW 1992, 2877). Eine solche Verhaltensorientierung ermöglicht nicht erst die letzte tatrichterliche Aussetzungsbewilligung, sondern im Instanzenzug schon die erste.
Zum anderen schließt § 56 f Abs. 1 S. 2 StGB eine legalprognostische Lücke, die sich lediglich zwischen der letzten tatrichterlichen Aussetzungsentscheidung und dem Rechtskrafteintritt auftäte. Auf nach der letzten tatrichterlichen Aussetzungsentscheidung folgende neue Delinquenz könnte im Erkenntnisverfahren nicht mehr mit einer korrigierten Legalprognose reagiert w...