Leitsatz (amtlich)
1. Zur Schutzfähigkeit eines zugleich funktionalen Zwecken dienenden Kinderhochstuhls als Werk der angewandten Kunst i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG.
2. Weicht die Gesamtanmutung eines Möbelstücks in prägenden Bestandteilen deutlich von dem geschützten Werk ab, so sind die Voraussetzungen einer freien Benutzung i.S.v. § 24 UrhG selbst dann gegeben, wenn im Übrigen aufgrund der identischen Übernahme einer Vielzahl von Details die Anlehnung an die Vorlage offensichtlich ist.
3. Bei der Beurteilung der verletzungsrelevanten Übereinstimmungen bzw. Abweichungen kommt es allein auf den Gesamteindruck von Vorlage und Anlehnung an. Eine nach bestimmten Blickwinkeln bzw. Perspektiven differenzierende Ähnlichkeitsbetrachtung wird dem urheberrechtlichen Werkcharakter nicht gerecht, der sich allein auf die Gesamtschöpfung bezieht.
Normenkette
UrhG § 2 Abs. 1 Nr. 4; UrhG § Abs. 2; UrhG §§ 24, 97 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Hamburg (Aktenzeichen 308 O 388/99) |
Tenor
Der Streitwert wird auch für das Berufungsverfahren auf 500.000 DM festgesetzt.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die urheber- und wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit der Herstellung und des Vertrieb des Kinderhochstuhls „SIT UP I” durch die Beklagte.
Die Klägerin ist ein norwegischer Möbelhersteller. Sie stellt her und vertreibt unter anderem einen Kinderhochstuhl unter der Bezeichnung „Tripp-Trapp-Stuhl” (Abbildung Anlage K2). Die Klägerin leitet ihre diesbezüglichen Rechte aus einem am 06.10.1972 mit dem norwegischen Designer P.O. her, der den Tripp-Trapp-Stuhl zwischen 1969 und 1972 entworfen hatte, geschlossenen Lizenzvertrag her (Anlage K4). Durch diese Vereinbarung ist der Rechtsvorgängerin der Klägerin, der Stokke Fabrikker A/S, das ausschließliche Nutzungsrecht an diesem Möbelstück eingeräumt worden, nämlich das alleinige Recht, den in den dazugehörigen Zeichnungen dargestellten Stuhl (Anlage K 16 und K17) herzustellen und weltweit zu verkaufen.
Der Vertrieb des Tripp-Trapp-Stuhls erfolgt in Deutschland durch die 1987 gegründete Tochtergesellschaft Stokke GmbH.
Der Tripp-Trapp-Stuhl besteht aus zwei parallelen, aus Holz gefertigten, schräg nach oben verlaufenden geraden Holmen, die am Boden mit zwei nach hinten laufenden, etwa halb so langen, ebenfalls aus Holz bestehenden Kufen verbunden sind. In den Holmen sind Nuten eingefräst, in die zwei Holzplatten eingeschoben werden können, wobei die obere als Sitzfläche und die untere als Fußstütze dient. Im oberen Bereich der Holme befinden sich zwei quer verlaufende, gebogene Leisten, die als Rückenlehne dienen. Auf der Höhe der Rückenlehne kann eine nach vorn gebogenen Leiste als Sturzschutz angebracht werden. Die Holme sind darüber hinaus durch zwei Metallstangen miteinander verbunden. Zwischen den Kufen befindet sich in der Mitte eine weitere Querverbindung in Form einer Holzleiste. In der Seitenansicht weist der Tripp-Trapp-Stuhl eine schräge L-Form auf.
Der Tripp-Trapp-Stuhl hat den „Klassikerpreis” des norwegischen Designrates 1995 erhalten und ist in die Endausscheidung für den Europäischen Design-Preis 1996 gelangt (Anlage K6). Zudem ist er in dem Buch „Schöner Wohnen – Moderne Klassiker – Möbel, die Geschichte machen” aufgeführt (Anlage K7) und findet Erwähnung in der norwegischen Presse als einer von zwölf ausgewählten Möbelklassikern (Anlage K5).
Die Beklagte vertreibt ihrerseits einen Kinderhochstuhl unter der Bezeichnung „„SIT UP I" (Anlage K11), der dem Tripp-Trapp-Stuhl in seinem Äußeren ähnelt. Er verfügt auf jeder Seite über zwei in spitzem Winkel aufeinander zulaufende, in der unteren Hälfte der Rückenlehne sich treffende Holme und eine im unteren Bereich vom Boden deutlich abgesetzte, die Holme verbindende Querleiste. Er wird auch in einer Aufmachung mit einem kleinen Tischchen vertrieben (Anlage K14).
Die Klägerin hatte die Beklagte bereits mit Schreiben vom 20.3.1987 (Anlage K9) wegen der Herstellung und des Vertriebs einer Nachbildung abgemahnt, bei der es sich um ein Vorgängermodell des „SIT UP I”-Stuhls handelte (Anlage K8). Die Beklagte gab daraufhin eine Unterlassungsverpflichtungserklärung ab (Anlage K9). Wegen eines weiteren, von der Klägerin ebenfalls als Nachahmung des Tripp-Trapp-Stuhls beanstandeten Sitzmöbels (Anlage K10) schlossen die Parteien vor dem LG Hamburg in dem Verfahren 308 O 403/97 einen Unterlassungsvergleich.
Verschiedene Stühle, in denen sich auch vom Tripp-Trapp-Stuhl genutzte Formelemente finden, waren in der Vergangenheit bereits Gegenstand von Patent- bzw. Gebrauchsmusteranmeldungen gewesen. Die Rechtsvorgängerin der Klägerin hatte mit Offenlegungsschrift 24 21 259 am 13.11.1975 den Tripp-Trapp-Stuhl in Deutschland offengelegt (Anlage B7) und am 02.05.1974 zum Patent (Anlage B6) sowie als Hilfsgebrauchsmuster (Anlage B8) angemeldet.
Zu dem relevanten vorbekannten Formenschatz gehört u.a. ein Gebrauchsmuster der Elastogran GmbH von 1969 (Anlage B13), eine britische Patentanmeldung aus dem Jahr 1941 (Anlage B14) sowie möglicherweise auch eine deutsche Off...