Entscheidungsstichwort (Thema)
Maßstab für die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge auf den nicht mit der Kindesmutter verhei-rateten Kindesvater bzw. die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den bisher nicht mit sorgebe-rechtigten Kindesvater
Leitsatz (amtlich)
1. § 1626a BGB legt unabhängig von der in der obergerichtlichen Rechtsprechung streitigen, aber weitgehend akademischen Frage, ob es sich um ein neues Leitbild oder ein neues Regel-Ausnahme-Verhältnis handelt, mit seiner gesetzlichen Vermutung, dass die gemeinsame Sorge nicht verheirateter Eltern dem Kindeswohl nicht widerspricht, einen eigenständigen Maßstab für deren erstmalige Einrichtung fest, da die Norm eine Prognoseentscheidung und nicht wie § 1671 BGB die nachträgliche Feststellung eines Scheiterns der gemeinsamen Elternverantwortung erfordert.
2. Der Wertungswiderspruch, der sich insoweit zwischen § 1626a BGB und § 1671 BGB ergibt, kann nur dadurch aufgelöst werden, dass - ohne zwingende Prämisse einer Kindeswohldienlichkeit der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern - die Zugangsvoraussetzungen für deren erstmalige Anordnung nicht zu hoch angesetzt werden. Auch im Hinblick auf die gem. den §§ 1626a Abs. 2, 1696 Abs. 1 S. 2, 1671 BGB gegenüber dem ansonsten geltenden § 1696 Abs. 1 S. 1 BGB milderen späteren Abänderungsvoraussetzungen kann es hinzunehmen sein, dass ggf. erst nach einer Zeit der Erprobung festzustellen ist, dass die erstmals angeordnete gemeinsame elterliche Sorge tatsächlich nicht funktioniert.
3. Die fortbestehende Alleinsorge der Kindesmutter ist jedoch zum Kindeswohl vorzuziehen in Fällen, in denen die gemeinsame elterliche Sorge prognostisch praktisch nicht funktionieren würde, weil trotz der entsprechenden Verpflichtung tatsächlich keine Konsensmöglichkeit besteht, insbesondere bei gravierenden Kommunikationsdefiziten, bzw. wenn mit erheblicher Gewissheit zu erwarten ist, dass zwischen den Eltern auch zukünftig in den Kindesangelegenheiten keine Kooperation stattfindet, voraussichtlich auch mit professioneller Hilfe keine Aussicht auf Besserung besteht und sich dieser Umstand erheblich belastend auf das Kind auswirken würde. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass auch schon eine Phase des "Erprobens" der gemeinsamen Elternverantwortung dem Kindeswohl schadet.
Normenkette
FamFG § 58 Abs. 1, § 59 Abs. 1, § 63 Abs. 1, § 64 Abs. 1, § 155a Abs. 3; BGB § 1626a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 S. 1, § 1626a S. 2, § 1626a Abs. 3, § 1671 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, § 1696 Abs. 1 S. 1, § 1696 S. 2; GG Art. 6 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
AG Gelsenkirchen-Buer (Beschluss vom 17.06.2015; Aktenzeichen 18 F 246/13) |
Tenor
I. Die Beschwerde des Kindesvaters und Antragstellers gegen den Beschluss des AG - Familiengericht - Gelsenkirchen-Buer vom 17.6.2015 (Az.: 18 F 246/13) wird zurückgewiesen.
II. Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten findet nicht statt.
III. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Antragsteller und Kindesvater (derzeit 38 Jahre alt) wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Zurückweisung seines Antrags auf Einräumung des gemeinsamen Sorgerechts mit der Antragsgegnerin und Kindesmutter (derzeit 30 Jahre alt) bzgl. des gemeinsamen Kindes D, geb. am ... 2006, und begehrt zudem die Übertragung des alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts auf sich selbst.
Der Kindesvater wuchs als Einzelkind bei seinen Eltern auf, die rund 30 Jahre lang eine Gaststätte betrieben und inzwischen Rentner sind. Nach dem Abitur studierte er ab 1999 Erziehungswissenschaften und schloss das Studium - nach Ds Geburt - mit dem Bachelor ab. Zudem legte der Kindesvater bei der Industrie- und Handelskammer eine Prüfung zum Kaufmann für Dialogmarketing ab. Er arbeitete als selbständiger Versicherungsvertreter bei der B-Versicherung. Ab 2009 vertrat der Kindesvater die rechtspopulistische Partei "Q" als Stadtverordneter im Rat der Stadt H. Nach einiger Zeit übte er seine Tätigkeit als selbständiger Versicherungsvertreter nicht mehr aus und war als Landesvizevorsitzender und pädagogischer Mitarbeiter im Büro seiner Partei vollzeitangestellt. Etwa im Oktober 2015 trat der Kindesvater aus der Partei "Q" aus und ist seitdem auch nicht mehr beruflich für diese tätig. Aktuell ist der Kindesvater fraktionsloses Mitglied im Rat der Stadt H und ansonsten arbeitslos; er bewirbt sich um einen Arbeitsplatz und absolviert ein Fernstudium zum Diplom-Fachwirt für Dialogmanagement (Ziel: Leiter/Teamleiter eines Callcenters). Nach einer aktuell bestandenen Prüfung muss der Kindesvater für den Abschluss noch Blockseminare Ende 2016 absolvieren. Der Kindesvater hat als neue Lebenspartnerin eine in K (Österreich) lebende Lehramtsstudentin (Germanistik und Geschichte), die bald für zwei Semester zu ihm nach Deutschland kommen und nach einem zwischenzeitlichen weiteren Semester in Österreich voraussichtlich endgültig zu ihm ziehe...