Leitsatz (amtlich)
1. Zwar darf ein Kraftfahrzeugführer nach § 20 Abs. 1 StVO im Gegenverkehr an sich vorsichtig an einem noch haltenden Bus vorbeifahren, muss sich dabei aber im Einzelfall - wie hier im Hinblick auf eine erkennbare Vielzahl von aussteigenden Kindern - nach § 3 Abs. 2a StVO so verhalten, dass eine Gefährdung eines plötzlich hinter dem Bus auf die Fahrbahn tretenden Kindes ausgeschlossen ist; dazu muss der Kraftfahrzeugführer die Geschwindigkeit im Zweifel so weit drosseln, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann (in Übertragung von BGH Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 77/23, BeckRS 2023, 40253 Rn. 23 m.w.N. auf § 3 Abs. 2a StVO).
2. Zur Schmerzensgeldbemessung bei offenem Unterschenkelbruch des rechten Beines an zwei Stellen mit Kompartmentsyndrom, unfallbedingter Einblutung im Gehirn sowie eingeschränkter Belastbarkeit des Beines beim Springen ohne Dauerschäden und sowie ausgiebiger Behandlung (19-tägiger Krankenhausaufenthalt, mehrere Operationen, Tragen eines Vacoped-Schuhs über sechs Wochen, Folgeoperation mit erneutem mehrtägigem Krankenhausaufenthalt) bei einem Zwölfjährigen.
Normenkette
BGB § 253 Abs. 2, § 254 Abs. 1; StVG § 7 Abs. 1, § 11; StVO § 3 Abs. 2a, § 20 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Hagen (Aktenzeichen 3 O 83/20) |
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gegen das am 25.10.2022 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 3. Zivilkammer des Landgerichts Hagen (3 O 83/20) gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO nachfolgender Maßgabe zurückzuweisen.
Der Feststellungstenor wird wie folgt gefasst:
Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger zu 70 Prozent alleweiterenmateriellen Schäden undzum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbarenimmateriellen Schäden aus dem Schadensereignis vom 00.10.2019 gegen 14:55 Uhr auf der W.-straße in S. zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Der Kostentenor wird wie folgt gefasst:
Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz tragen der Kläger zu 30 % unddie Beklagten gesamtschuldnerisch zu 70 %.
Es ist beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 11.808,13 EUR festzusetzen.
Den Beklagten wird Gelegenheit gegeben, binnen drei Wochen nach Zugang dieses Beschlusses Stellung zu nehmen.
Gründe
I. Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Das Landgericht hat die Klage im Ergebnis richtig entschieden.
Die Einwendungen der Beklagten, bezüglich derer zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Berufungsbegründung vom 19.12.2022 (Bl. 38 ff. der zweitinstanzlichen elektronischen Gerichtsakte) Bezug genommen wird, greifen im Ergebnis nicht durch. Die vom Landgericht festgesetzte Haftungsquote geht jedenfalls nicht zu Lasten der Beklagten.
Im Einzelnen:
1. Dem Kläger steht gegen die Beklagten der vom Landgericht ausgeurteilte Anspruch auf Ersatz materieller Schäden in Höhe von 308,13 EUR nebst Prozesszinsen sowie auf Schmerzensgeld in Höhe von 8.500,00 EUR aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB (i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, § 1 Satz 1 PflVG) zu.
a) Der Beklagte zu 1 haftet als Halter und Fahrer des unfallbeteiligten Kraftfahrzeuges dem Kläger gegenüber gemäß § 7 Abs. 1 und § 18 Abs. 1 StVG.
Der Unfall ereignete sich während des Betriebes im öffentlichen Straßenverkehr und war ursächlich für die Körperverletzung des Klägers.
Die Ersatzplicht ist nicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen, da der Unfall ersichtlich nicht durch höhere Gewalt verursacht worden ist (vgl. dazu insbesondere für die Fälle von Kollisionen von Fußgängern mit Kraftfahrzeugen Laws/Lohmeyer/Vinke in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 StVG (Stand: 05.05.2023), Rn. 272, 276).
Die Frage, ob die Ersatzpflicht aufgrund eines unabwendbaren Ereignisses ausgeschlossen ist, stellt sich entgegen dem Berufungsvorbringen in dem hier streitigen Fall der Kollision zwischen einem Kraftfahrzeug und einem Fußgänger nicht, da § 17 Abs. 3 StVG - wie auch das Landgericht bereits richtig gesehen hat - nur im Verhältnis mehrerer unfallbeteiligter Fahrzeughalter untereinander gilt (vgl. nur BGH Urt. v. 4.4.2023 - VI ZR 11/21, r+s 2023, 455 Rn. 9). Im Übrigen war der Unfall ohne Weiteres unabwendbar, da ein Idealfahrer an Stelle des Beklagten zu 1 rechtzeitig stehen geblieben wäre.
b) Jedenfalls nicht zu Lasten der Beklagten hat das Landgericht einen Mithaftungsanteil des Klägers von nur 30 Prozent zugrunde gelegt (§ 9 StVG i.V.m. § 254 BGB).
Die Entscheidung über die Haftungsverteilung ist aufgrund aller festgestellten, d. h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägu...