Leitsatz (amtlich)
1. Die doppelte Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 StVO ist nicht gewahrt, wenn es zwar zu einem "doppelten Schulterblick" kommt, der zweite Schulterblick jedoch nicht unmittelbar vor dem Abbiegen erfolgt.
2. In die Abwägung nach § 17 Abs. 2, Abs. 1 StVG kann eine erhöhte Betriebsgefahr motorisierter Zweiräder aufgrund ihrer Beschleunigungsfähigkeit und Instabilität einzustellen sein, wenn diese - wie hier aber nicht - unfallursächlich geworden ist (in Fortschreibung zu OLG Hamm Urt. v. 30.5.2016 - 6 U 13/16, NJW-RR 2017, 149 = juris Rn. 38).
3. Zur Schmerzensgeldbemessung bei mehrfragmentärer dislozierter Unterschenkelfraktur mit Kompartmentsyndrom, dislozierter Fraktur des linken Mittelfußknochens mit Fußkompartment und CRPS ("Morbus Sudec").
Normenkette
BGB § 253 Abs. 2; StVG § 17 Abs. 1-2; StVO § 9 Abs. 1 S. 4 Hs. 1
Verfahrensgang
LG Arnsberg (Aktenzeichen 2 O 534/17) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 25.11.2020 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg (Az.: I-2 O 534/17) unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen teilweise abgeändert.
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger weitere 4.000,00 EUR Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 07.02.2018 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner zu 100 % verpflichtet sind, dem Kläger seine weiteren materiellen und zukünftige, derzeit nicht vorhersehbare immaterielle Schäden aus dem Verkehrsunfall am 00.00.2016 in A, B, C-Straße, D-Straße, Einmündung, E zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.
Die Kosten des Rechtsstreits 1. Instanz tragen der Kläger zu 28 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 72 %. Die Kosten des Rechtsstreits 2. Instanz tragen der Kläger zu 44 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 56 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1, 544 Abs. 2 ZPO abgesehen.
II. Die Berufung des Klägers ist zulässig und teilweise begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung weiteren Schmerzensgeldes in Höhe von 4.000,00 EUR nebst Zinsen im tenorierten Umfang aus §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG. Zudem ist der Feststellungsantrag nach einer Quote von 100 % zu Lasten der Beklagten begründet. Die weitergehende Berufung des Klägers ist hingegen unbegründet; insoweit verbleibt es bei der Klageabweisung durch das Landgericht.
1. Der Unfall war für keinen der Unfallbeteiligten ein unabwendbares Ereignis gem. § 17 Abs. 3 StVG. Den Beweis für die Unabwendbarkeit des Unfallgeschehens muss jeweils die Partei führen, die sich darauf beruft (vgl. OLG Hamm Urteil vom 3.12.2021 - I-7 U 33/20, NJW-RR 2022, 676, Rn. 3, beck-online). Auf eine Unabwendbarkeit beruft sich der Kläger ausdrücklich nicht. Auch für den Beklagten zu 1) stellt sich der Unfall nicht als unabwendbares Ereignis dar. Nach seinem eigenen Vortrag hat er den Kläger bereits vor dem Abbiegen bei einem Schulterblick wahrgenommen. Dass ein Idealfahrer in dieser Situation nicht in Anwendung äußerster Sorgfalt den Unfall durch Zurückstellen der Abbiegeabsicht vermieden hätte, ist von den Beklagten weder dargetan noch sonst ersichtlich.
2. Die damit gem. §§ 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung der Verschuldensanteile ergibt, dass die Beklagten vollumfänglich für die Folgen des Verkehrsunfalls einzustehen haben.
Nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG hängt im Verhältnis der Fahrzeughalter zueinander die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, wie weit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (vgl. BGH Urt. v. 15.5.2018 - VI ZR 231/17, NJW 2018, 3095 Rn. 10). Darüber hinaus ist die konkrete Betriebsgefahr der beteiligten Kraftfahrzeuge von Bedeutung. Die Umstände, die die konkrete Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs erhöhen, insbesondere also dem anderen zum Verschulden gereichen, hat im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung jeweils der Unfallgegner zu beweisen (vgl. Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 17 StVG [Stand: 01.12.2021] Rn. 78).
a) Dem Beklagten zu 1) sind Verstöße gegen §§ 9 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 und Satz 4 StVO zur Last zu legen.
Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO muss, wer abbiegen will, dies rechtzeitig und deutlich ankündigen; dabei s...