Leitsatz (amtlich)
1. Biegt ein Traktor in einem Wald- oder Feldweg ein, hat er nicht nur zuvor rechtzeitig den Fahrtrichtungsanzeiger nach § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO zu setzen und doppelte Rückschau nach § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO zu halten, sondern im Einzelfall - wie hier - trotz fehlenden Abbiegens in ein Grundstück nach § 1 Abs. 2 StVO in entsprechender Anwendung des § 9 Abs. 5 StVO eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen (in Anlehnung an BGH Urt. v. 17.1.2023 - VI ZR 203/22, r+s 2023, 265 Rn. 25, 30; im Anschluss an OLG Naumburg Urt. v. 12.12.2008 - 6 U 106/08, NJW-RR 2009, 744 = juris Rn. 19; OLG Stuttgart Beschl. v. 8.4.2011 - 13 U 2/11, BeckRS 2011, 14283 = juris Rn. 16).
2. Zur unklaren Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO - hier verneint - vor dem Abbiegen eines Traktors in einen Feldweg.
Normenkette
StVO § 1 Abs. 2, § 5 Abs. 3 Nr. 1, § 9 Abs. 1 Sätze 1, 4, Abs. 5
Verfahrensgang
LG Münster (Aktenzeichen 11 O 24/21) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 1.7.2022 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster (11 O 24/21) abgeändert und unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten bleiben als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 5.275,14 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 17.10.2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin zu 16 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 84 %. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
Dieses Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
(abgekürzt gemäß § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1, § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO)
I. Die zulässige Berufung der Beklagten hat teilweise Erfolg. Das Landgericht hat der Klage in geringem Teil zu Unrecht stattgegeben.
1. Die Klägerin hat gegen den Beklagten zu 1 einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 5.275,14 EUR aus § 18 Abs. 1 Satz 1 StVG.
a) Bei dem Betrieb des von dem Beklagten zu 1 geführten Traktors ist das klägerische Fahrzeug beschädigt worden.
b) Zu Recht hat das Landgericht einen Haftungsausschluss nach § 7 Abs. 2 und § 17 Abs. 3 StVG abgelehnt. Dies steht im Berufungsrechtszug auch nicht mehr im Streit. Auch ist die Ersatzpflicht des Beklagten zu 1 nicht nach § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG ausgeschlossen. Dies wäre der Fall, wenn der Schaden nicht durch ein Verschulden des Fahrzeugführers verursacht ist. Vorliegend steht allerdings außer Streit, dass der Beklagte zu 1 die doppelte Rückschaupflicht verletzt hat und es so zum Verkehrsunfall kommen konnte.
c) Zu Recht hat das Landgericht weiterhin erkannt, dass eine Quotierung zulasten der Klägerin nicht stattzufinden hat.
aa) Dies ergibt sich - wie das Landgericht auch zu Recht angenommen hat - nicht bereits aus § 17 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 2 StVG, da sich der Unfall aus Sicht der Klägerin nicht als unabwendbares Ereignis darstellt. Für die Unabwendbarkeit trägt derjenige die Darlegungs- und Beweislast, der daraus Rechte ableiten kann (st. Rspr., vgl. nur OLG Hamm Urt. v. 11.06.2021 - I-7 U 24/20, juris Rn. 56), in diesem Fall also die Klägerin. Nach § 17 Abs. 3 Satz 2 StVG gilt ein Ereignis nur dann als unabwendbar, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Kraftfahrzeugs jede nach den Umständen gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Das Landgericht hat - was von den Parteien auch nicht weiter angegriffen wird - festgestellt, dass nicht auszuschließen sei, dass einer der Fahrzeugführer - also auch der Geschäftsführer der Klägerin - den Unfall durch erhöhte Aufmerksamkeit oder frühere Reaktion hätte vermeiden können. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Beklagte zu 1 rechtzeitig den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hat und der Geschäftsführer der Klägerin deswegen nicht zum Überholen hätte ansetzen dürfen.
bb) Das Landgericht ist jedoch ebenfalls zu Recht davon ausgegangen, dass der Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten zu 1 nicht auf Grund von § 17 Abs. 2 und 1 StVG zu quotieren ist, weil der Schaden weit überwiegend vom Beklagten zu 1 verursacht worden ist und daher die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs zurücktritt. Dies ergibt sich aus einer Abwägung der Verursachungsbeiträge. In diese Abwägung sind alle Umstände des Einzelfalls einzustellen, die unstreitig, zugestanden oder bewiesen sind.
(1) Zulasten des Beklagten zu 1 ist die unstreitige Verletzung der doppelten Rückschaupflicht aus § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO einzustellen. Eine Verletzung des Gebots, die Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig zu benutzen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 StVO), kann hingegen nicht in die Abwägung eingestellt werden, da eine solche Verletzung nicht erwiesen ist.
Zudem hat der Beklagte die Pflicht aus § 9 Abs. 5 StVO in entsprechender Anwendung verletzt. Bei einem Wald- oder Feldweg handelt es sich zwar nicht um ein "Grundstück" im Sinne des § 9 Abs. 5 StVO, es gelten jedoch, abhängig von den jeweiligen Umständen ...