Entscheidungsstichwort (Thema)
Notwehr. Nothilfe. Notwehrlage. Erforderlichkeit. Gebotenheit
Leitsatz (amtlich)
1. Zu den Voraussetzungen einer Nothilfelage.
2. Ob die Verteidigungshandlung i.S.d. § 32 StGB erforderlich ist, hängt im Wesentlichen von Art und Maß des Angriffs ab. Dabei darf sich der Angegriffene grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, das er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt. Das schließt auch den Einsatz lebensgefährlicher Mittel (im konkreten Fall: Schlag mit einem Bierglas gegen den Kopf) ein. Zwar kann dieser nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und darf auch nur das letzte Mittel der Verteidigung sein; doch ist der Angegriffene nicht genötigt, auf die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang braucht er sich nicht einzulassen. Bei mehreren Einsatzmöglichkeiten des vorhandenen Abwehrmittels hat der Verteidigende nur dann das für den Angreifer am wenigsten gefährliche zu wählen, wenn ihm Zeit zum Überlegen zur Verfügung steht und durch die weniger gefährliche Abwehr dieselbe, oben beschriebene Wirkung erzielt wird.
Normenkette
StGB § 32
Verfahrensgang
LG Siegen (Aktenzeichen 11 Ns 116/12) |
Tenor
Die Revision wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen hat der Nebenkläger zu tragen.
Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft einschließlich der insoweit entstandenen Auslagen hat die Landeskasse zu tragen.
Gründe
I.
Mit der zugelassenen Anklage waren dem (nunmehr allein im Verfahren verbliebenen) Angeklagten sowie dem früheren Mitangeklagten V Straftaten der Beleidigung und der gefährlichen Körperverletzung zur Last gelegt worden. Sie sollen (u.a.) am frühen Morgen des 07.06.2012 die Zeugen H (revidierender Nebenkläger) und U als "Kanaken" beschimpft und sodann der Angeklagte dem Nebenkläger mittels eines Bierkruges gegen den Kopf geschlagen haben. Das Amtsgericht sprach den früheren Mitangeklagten V frei. Den Angeklagten verurteilte es "wegen gefährlicher Körperverletzung in einem minderschweren Fall" zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Im Übrigen sprach es ihn frei.
Auf die Berufung des Angeklagten und der (zu seinen Lasten eingelegten) Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht mit dem angefochtenen Urteil das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen.
Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es zu dem besagten Tatzeitpunkt zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen der aus dem Angeklagten, dem früheren Mitangeklagten V sowie weiteren Personen bestehenden Gruppe um den Angeklagten und den Zeugen H und U. Von wem diese ausging, konnte nicht geklärt werden. Weiter heißt es dann im angefochtenen Urteil:
"Jedenfalls riefen H und/oder U über die Straße hinweg zu den Personen um den Pkw in etwa sinngemäß, ob sie Ärger haben wollten.
Nicht ausschließbar fiel von ihrer Seite auch das Wort "Glatzen" oder
"Scheiß-Glatzen" in Richtung der Personen um den Pkw. Der Zeuge Y, der sich im Bereich hinter dem Fahrzeugheck aufhielt, reagierte hierauf,
indem er zu H und U zurückrief, was sie "Scheiß-Kanaken" hier wollten bzw. sie sollten sich in ihren "Kanakenladen" - gemeint war das "Z" - machen.
H und U , die V als den Rufenden wähnten, ließen die Sache nicht auf sich beruhen. Vielmehr querten sie nun die L ### und näherten sich der Gruppe, die um den Pkw stand. Dabei ging H vorneweg, wobei er weiterhin Rufe in Richtung der Gruppe, insbesondere in Richtung des ihnen am nahesten stehenden V richtete, ob sie Stress haben wollten und ob sie was auf die Fresse haben wollten. Es war die Rede davon, die Sache
1 zu 1 - gemeint ist im Kampf Mann gegen Mann - zu klären. Eine verbale Retoure seitens des Angeklagten und seiner Begleiter gab es hierauf nicht.
Zwischenzeitlich hatte der Zeuge X2 nach Einladen der Kleidung auf dem Fahrersitz des Wagens Platz genommen und wartete, dass die anderen mit Rauchen fertig sein und einsteigen würden. V stand auf der Fahrerseite direkt in der hinteren Fahrgasttüre; L2 stand immer noch mit dem Bierkrug in der Hand, vielleicht einen halben bis einen Meter entfernt von V, linksseitig Höhe Heckbereich des Pkw. Diese Position behielt er weiterhin bei. Die Zeugin X hatte sich während des Annäherns von H und U auf den Beifahrersitz gesetzt und - da sie Ärger infolge der Rufe des H befürchtete - forderte sie V auf schon mal einzusteigen. Die Zeugen X+X2 verfolgten das weitere Geschehen aus dem Pkw heraus. V folgte der Aufforderung einzusteigen zunächst und hatte hinter dem Fahrer Platz genommen, war aber dann, als H und U immer näher und direkt auf die Autotür zukamen, hinter der er saß, zügig wieder ausgestiegen, aus Sorge vor einem Angriff in das Auto hinein, dem er sich nicht entziehen könne. Er hatte nämlich beobachtet, dass H mit den Händ...