Leitsatz (amtlich)
1. Bestimmung des Vorfahrtsbereichs im nicht beschilderten Rondell.
2. Schutzzweck des Rechtsfahrgebotes nach § 2 Abs. 2 StVO
3. Haftungsabwägung zwischen Vorfahrtsverstoß des Radfahrers und Unaufmerksamkeit des bevorrechtigten Kraftfahrers (hier 60 % zu Lasten des Radfahrers).
Normenkette
BGB § 823 Abs. 1; StVG § 7 Abs. 1, § 9; StVO § 1 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Münster (Urteil vom 21.12.2015; Aktenzeichen 010 O 180/15) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 21.12.2015 verkündete Urteil des Einzelrichters der 10. Zivilkammer des LG Münster teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Klage ist hinsichtlich des Haushaltsführungsschadens und hinsichtlich des Schmerzensgeldes unter Berücksichtigung eines Mit- bzw. Eigenverschuldens der Klägerin von 60 % dem Grunde nach gerechtfertigt.
2. Die Klage ist hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten dem Grunde nach gerechtfertigt.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche materiellen Schäden und nicht vorhersehbare zukünftige immaterielle Schäden resultierend aus dem Verkehrsunfall vom 22.8.2014 auf der Grundlage eines Mit- bzw. Eigenverschuldens von 60 % auszugleichen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind.
4. Die weiter gehende Berufung der Beklagten und die Berufung der Klägerin werden zurückgewiesen.
5. Die weiter gehende Klage wird abgewiesen.
6. Die Sache wird wegen der Höhe der Ansprüche der Klägerin zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen, welches auch über die Kosten des Verfahrens einschließlich derjenigen des Berufungsverfahrens zu entscheiden hat.
7. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
8. Das Urteil beschwert keine der Parteien mit mehr als 20.000,- EUR.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt die Beklagten aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 22.8.2014 um 18.55 Uhr auf der Kreuzung der X-Straße/L-Straße in N ereignete. Hierbei handelt es sich nicht um eine rechtwinklige Kreuzung, sondern um ein Rondell, in dem die Vorfahrtsregelung "rechts vor links" gilt. Die 1937 geboren Klägerin fuhr mit ihrem Fahrrad von der X-Straße aus in das Rondell ein mit dem Ziel, an der gegenüberliegenden Einmündung, somit quasi geradeaus, weiterzufahren. Aus der aus ihrer Sicht rechts gelegenen L-Straße näherte sich die Beklagte zu 1) mit ihrem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW. Zwischen den Einmündungen der L-Straße und der T-Straße, in welche die Klägerin einfahren wollte, kam es zur Kollision dergestalt, dass die Klägerin an die vordere linke Ecke des Beklagtenfahrzeuges prallte.
Die Klägerin zog sich eine bikondyläre Tibiakopffraktur mit zweitgradigem Weichteilschaden zu. Es fand zunächst eine operative Fixierung des Bruchs statt, sodann wurde in einer weiteren dreistündigen Operation der Bruch mit einer Metallplatte und 20 Schrauben versorgt. Die Klägerin befand sich vom 22.8. bis zum 11.9.2014 in stationärer Behandlung. Sodann konnte am 11.11.2014 erstmalig eine Teilbelastung des Knies mit einem Gewicht von 20 kg erfolgen. Die erste Rehabilitationsmaßnahme in der Zeit vom 11.9. bis zum 2.10.2014 erbrachte keine volle Belastbarkeit des Knies, so dass eine weitere stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 13.11. bis zum 16.12.2014 in C stattfand. Ab dem 3.1.2015 wurde die ambulante Rehabilitation zur Erlernung eines freien Gangbildes ohne Zuhilfenahme von Unterarm-Gehstützen eingeleitet. In dieser Zeit zerbrach die eingesetzte Metallplatte und musste in einer weiteren Operation mit stationärer Behandlung vom 12. bis zum 24.3.2015 ersetzt werden. Es schloss sich eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme in der Zeit vom 7.4. bis zum 20.7.2015 an.
Die Klägerin macht mit ihrer Klage ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 10.000,- Euro, Schadensersatz u.a. für beschädigte Kleidung, Zuzahlungen, Kosten für die Anmietung und den späteren Erwerb eines Seniorenbettes und eines Ergometers sowie einen -teilweise unstreitigen - Haushaltsführungsschaden, als auch die Feststellung der Haftung der Beklagten dem Grunde nach und ihre außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten geltend.
Die Beklagte zu 2) hat einen Vorschuss in Höhe von 4.000,- Euro geleistet, wovon 971,70 EUR auf den materiellen Schaden, 400,- EUR auf den Haushaltsführungsschaden, soweit dieser berechtigt sei, und der verbleibende Betrag auf die Schmerzensgeldforderung verrechnet werden sollten.
Die Klägerin hat behauptet, sie habe beim Einfahren in das Rondell das Fahrzeug der Beklagten zu 1) von rechts nahen sehen, jedoch angenommen, sie könne den Kreuzungsbereich noch vor diesem Fahrzeug verlassen, weil die Beklagte zu 1) sehr langsam gefahren sei. Vor dem beabsichtigten Abbiegen in die T-Straße habe sie ihren rechten Arm ausgestreckt, um ihre Fahrtrichtung anzuzeigen. Erst als sie sich bereits auf Höhe der T-Straße befunden habe, sei das Fahrzeug der Beklagten ungebremst in den Kreisverkehr eingefahren und es sei zum Zus...