Leitsatz (amtlich)
1. Fährt ein städtischer Unimog bei Mäharbeiten des Banketts rückwärts aus einer Haltebucht auf die Fahrbahn in einen vorbeifahrenden Pkw, liegt ein Unfall "bei Betrieb" im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG vor.
2. Dieser Fahrvorgang stellt einen Verstoß gegen § 10 Satz 1 und Satz 2 StVO dar, wenn der Fahrer des Unimogs Rückschau nur über eine Bordkamera vornimmt und den Fahrtrichtungsanzeiger nicht betätigt.
3. Zur fehlenden Kausalität eines etwaigen Verstoßes des Vorbeifahrenden gegen die Abstandsregelung des § 6 StVO.
4. Eine unklare Verkehrslage für den Vorbeifahrenden im Sinne des § 11 Abs. 3 StVO liegt nicht vor, wenn mit dem Rücksetzen des Unimogs nicht zu rechnen war und der Einsatz gelben Blinklichts im Sinne des § 38 Abs. 3 StVO nicht bewiesen ist.
5. Eine persönliche Haftung des Fahrers des städtischen Unimogs scheidet aus, wenn die Anstellungskörperschaft im Wege der befreienden gesetzlichen Schuldübernahme anstelle seiner Bediensteten haftet, weil der Fahrer eine hoheitliche Tätigkeit (hier nach § 9a Abs. 1 Satz 1 StrWG NRW) vorgenommen hat.
Normenkette
StrWG NRW § 9a Abs. 1 S. 1; StVG § 7 Abs. 1; StVO §§ 6, 10 Sätze 1-2, § 11 Abs. 3, § 38 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Arnsberg (Aktenzeichen 2 O 314/17) |
Tenor
Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten zu 2) wird das am 27.02.2020 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg (Az. I-2 O 314/17) unter Zurückweisung der Rechtsmittel im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte zu 2) wird verurteilt, an die Klägerin 6.221,44 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 5.416,44 EUR seit dem 13.09.2017 sowie aus weiteren 805,00 EUR seit dem 01.09.2017 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1) aus erster und zweiter Instanz.
Von den in erster Instanz angefallenen Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen die Klägerin 56 % und die Beklagte zu 2) 44 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) aus erster Instanz trägt diese selbst zu 89 % und zu 11 % die Klägerin.
Von den in zweiter Instanz angefallenen Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen die Klägerin 57 % und die Beklagte zu 2) 43 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) aus zweiter Instanz trägt diese selbst.
Dieses Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Gleiches gilt für das angefochtene Urteil, soweit die Berufungen zurückgewiesen worden sind.
Gründe
A. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1, 544 Abs. 2 ZPO abgesehen.
B. Die wechselseitigen Berufungen der Klägerin und der Beklagten zu 2) sind zulässig. In der Sache führen sie zur Abänderung des angefochtenen Urteils in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang.
I. Die Berufung der Klägerin ist begründet, soweit sie sich gegen die vom Landgericht angenommene Mithaftung zu einer Quote von 25 % im Verhältnis zur Beklagten zu 2) wendet. Soweit die Klägerin ihre Ansprüche gegen den Beklagten zu 1) weiterverfolgt, bleibt ihre Berufung hingegen ohne Erfolg.
1. Die Klägerin hat gegen die Beklagte zu 2) über die bereits vorprozessual gezahlten Beträge hinaus einen Anspruch auf Zahlung von weiterem Schadenersatz aus §§ 7 Abs. 1, 17 StVG in Höhe von 6.221,44 EUR. Der Schadensersatzanspruch ist nicht gemäß § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG wegen einer Mithaftung der Klägerin zu kürzen.
a) Der streitgegenständliche Unfall, bei dem das Fahrzeug der Klägerin beschädigt wurde, hat sich zweifellos im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG beim Betrieb des von der Beklagten zu 2) gehaltenen und von dem Beklagten zu 1) gefahrenen Unimog ereignet. Hierbei war der Unimog nicht etwa nur als Arbeitsmaschine, sondern beim Rangieren auf der Straße als Verkehrsmittel im Einsatz. Höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG liegt nicht vor. Die Gefährdungshaftung der Beklagten zu 2) als Halterin des Fahrzeugs wird auch nicht durch eine etwaige Amtshaftung gemäß § 839 BGB, Art. 34 GG verdrängt, sie steht vielmehr selbständig daneben (vgl. etwa BGH, Urteil vom 18.01.2015, VI ZR 115/04 - juris Rn. 7).
b) Ein Haftungsausschluss wegen Vorliegens eines unabwendbaren Ereignisses i. S. v. § 17 Abs. 3 StVG greift weder zu Gunsten der Beklagten zu 2) noch zu Gunsten der Klägerin.
Gemäß § 17 Abs. 3 StVG ist die Verpflichtung zum Ersatz nach § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG für denjenigen ausgeschlossen, für den sich der Unfall als unabwendbares Ereignis darstellt. Unabwendbar in diesem Sinne ist nur ein Ereignis, das auch durch äußerste Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Der Fahrer muss sich wie ein "Idealfahrer" verhalten haben. Hierzu gehört ein Fahrverhalten, das in der konkreten Verkehrssituation alle möglichen Gefahrmomente sowie auch fremde Fahrfehler in Rechnung stellt und berücksichtigt. Notwendig ist daher eine über den gewöhnlichen Fahrerdurchschnitt erheblich hinausgehend...