Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Anscheinsbeweis bei atypischem Auffahrunfall
Leitsatz (amtlich)
Die Anwendung von Anscheinsbeweisregeln setzt die Feststellung eines Sachverhaltes mit einer Eigentümlichkeit voraus, die nach der Lebenserfahrung eine bestimmte (typisierte) Beurteilung begründet. Daher ist eine Heckkollision (Heck Vordermann/Front Hintermann) einer Typizität nicht zugänglich, wenn objektive Umstände bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen.
Verfahrensgang
LG Münster (Urteil vom 10.02.2003; Aktenzeichen 12 O 298/02) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 10.2.2003 verkündete Urteil der 12. Zivilkammer des LG Münster abgeändert.
Die Beklagten werden – unter Zurückweisung der weiter gehenden Berufung – verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 3.020,41 Euro nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.3.2002 zu zahlen.
Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Am 5.2.2002 befuhr der Zeuge H. mit dem Pkw BMW 320i des Klägers in G. die G.-straße aus Richtung N. kommend in Richtung G. Innenstadt. Vor ihm fuhr der Beklagte zu 1) mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw Mercedes-Benz 190 D in dieselbe Richtung. In seinem Fahrzeug befanden sich als Mitfahrer die Zeugen E. und I. Etwa 50 Meter vor dem Ortseingangsschild fuhr der Zeuge H. mit dem BMW auf das Heck des Mercedes auf. Grund und genauer Hergang des Unfalls sind zwischen den Parteien str. Durch den Unfall entstand dem Kläger ein Schaden i.H.v. 6.040,81 Euro. Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 1) sei vor dem Ortseingangsschild unter Verringerung seiner Geschwindigkeit auf eine Linksabbiegerspur gefahren und sodann unvermutet ohne Betätigung des rechten Fahrtrichtungsanzeigers wieder nach rechts auf die Geradeausspur gewechselt. Dem Zeugen H. sei es deshalb nicht mehr möglich gewesen, eine Kollision zu vermeiden. Mit seiner Klage hat der Kläger vollen Ersatz seines Schadens begehrt. Die Beklagten sind diesem Begehren entgegengetreten. Sie bestreiten die Unfalldarstellung des Klägers und behaupten, der Beklagte zu 1) sei unverändert auf der Geradeausspur in Richtung G. Innenstadt verblieben. Der Zeuge H. habe die Kollision durch überhöhte Geschwindigkeit und Unachtsamkeit verschuldet. Das LG hat nach Zeugenvernehmungen und Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens die Klage abgewiesen. Es hat das Vorliegen eines Anscheinsbeweises für ein schuldhaftes Auffahren des Zeugen H. bejaht und diesen Anschein als nicht entkräftet angesehen. Wegen der Feststellungen des LG im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
II. Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Der Kläger kann von den Beklagten als Gesamtschuldnern nach §§ 7 Abs. 1 StVG, 3 PflVG die Hälfte seines Schadens ersetzt verlangen.
1. Keine der Parteien hat den Beweis erbringen können, dass der Unfall für ihren Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.v. § 7 Abs. 2 StVG dargestellt hat und damit eine Einstandspflicht für die Betriebsgefahr ihres Kraftfahrzeuges vollständig entfällt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und Anhörung der an der Kollision beteiligten Fahrzeugführer kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass jeder von ihnen den Unfall bei Anwendung äußerster Sorgfalt hätte vermeiden können. Es ist aber auch keiner Partei gelungen, einen Verstoß des Unfallgegners gegen die verkehrserforderliche Sorgfalt zu beweisen und damit den Nachweis für eine bei der Kollision wirksam gewordene erhöhte Betriebsgefahr des gegnerischen Kraftfahrzeuges mit der Folge eines ihr günstigeren Abwägungsergebnisses nach § 17 Abs. 1 S. 2 StVG zu erbringen.
2. Der Senat ist abweichend von der Beurteilung des LG der Ansicht, dass die Voraussetzungen eines Anscheinsbeweises zugunsten der Beklagten nicht vorliegen und der Unfallhergang i.E. nicht aufgeklärt werden kann.
Die Anwendung des Anscheinsbeweises bei Verkehrsunfällen setzt Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung zunächst der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat. Es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist.
Allein das Kerngeschehen eines „Heckanstoßes” als solches reicht dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, der aufgefahren ist, schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann also stets nur aufgrund einer umfassenden...