Leitsatz (amtlich)

1. Die Verkennung des Kerngehalts eines entscheidungserheblichen Parteivorbringens ist als wesentlicher Verfahrensfehler i.S.d. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO und auch als Gehörsverletzung i.S.d. Art. 103 Abs. 1 GG zu werten und kann deshalb einen Grund für eine Aufhebung und Zurückverweisung darstellen.

2. Ein Verfahrensfehler i.S.d. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kann auch in einer mangelhaften Beweiswürdigung liegen. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn im erstinstanzlichen Urteil eine Beweiswürdigung gänzlich fehlt.

3. Nach schriftlicher Beantwortung einer Beweisfrage durch einen Zeugen gem. § 377 Abs. 3 ZPO kann gem. § 286 ZPO die grundsätzlich im Ermessen des Gerichts stehende persönliche Ladung des Zeugen geboten sein, wenn die schriftliche Auskunft des Zeugen als unzulänglich zu erachten ist. Von einer solchen Unzulänglichkeit der schriftlichen Beantwortung einer Beweisfrage ist regelmäßig dann auszugehen, wenn mehrere Zeugen ihre schriftliche Auskunft nahezu wortgleich formuliert haben und sie lediglich pauschale Angaben gemacht haben.

4. Im Rahmen der Ermessensentscheidung zwischen einer Aufhebung und Zurückverweisung gem. § 538 Abs. 2 ZPO und der eigenen Sachentscheidung gem. § 538 Abs. 1 ZPO hat das Berufungsgericht insbesondere auch zu erwägen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits führt und dies den Interessen der Parteien entgegenstehen kann.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 377 Abs. 3 S. 3, § 286

 

Verfahrensgang

LG Essen (Urteil vom 29.05.2012; Aktenzeichen 9 O 182/10)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird unter Zurückweisung des weiter gehenden Berufungsbegehrens das am 29.5.2012 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des LG Essen (9 O 182/10) mit dem ihm zugrunde liegenden Verfahren aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG Essen zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden niedergeschlagen. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung dem Schlussurteil vorbehalten.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Restwerklohnzahlung aufgrund der Ausführung von Abbrucharbeiten in Anspruch. Die Beklagte macht gegen die Klägerin im Wege der Aufrechnung und der Widerklage Gegenansprüche auf Zahlung eines Kostenvorschusses zur Mängelbeseitigung und auf Verzugsschadensersatz geltend.

Mit Vertrag vom 17.9.2009 beauftragte die Beklagte die Klägerin mit der Durchführung von Abbrucharbeiten im Rahmen des Bauvorhabens der Beklagten auf dem Grundstück N-Straße/B-Straße in L3. Die Beklagte beabsichtigte, auf diesem ehemaligen Betriebsgelände der Firma "P" sieben Mehrfamilienhäuser mit 94 Wohneinheiten inkl. Garagen neu zu errichten. In dem Vertrag ist bestimmt, dass für diesen u.a. das der Klägerin von der Beklagten zur Verfügung gestellte Leistungsverzeichnis vom 17.9.2009, die "Zusätzlichen Vertragsbedingungen zum Vertrag" (ZVB) und ergänzend die Regelwerke der VOB/B und VOB/C in der zur Zeit der Auftragserteilung gültigen Fassung gelten sollen. Ferner ist dort vereinbart, dass die Beklagte für die von der Klägerin auszuführenden Arbeiten einen "Pauschalfestpreis" von 144.537,82 EUR netto (172.000 EUR brutto) zu zahlen habe. Der Baubeginn sollte nach dem Vertrag am 5.10.2009 erfolgen. Für die Fertigstellung der Arbeiten war ein Zeitraum von neun Wochen nach Auftragserteilung vorgesehen. Nach dem Leistungsverzeichnis sollte die Klägerin insbesondere den Abriss von Lagerhallen, Wohnhäusern, Garagen und Schuppen vornehmen sowie Problemstoffe entsorgen. Im Rahmen der vor der Vertragsunterzeichnung geführten Verhandlungen hatten die Parteien unter dem 3.9.2009 ein "Verhandlungsprotokoll" erstellt. Dort wurde in dem vorgedruckten Feld "5.2 Verbindlicher Fertigstellungstermin:" folgende Eintragung vorgenommen: "9 Wochen nach Auftragserteilung".

Die Klägerin begann vereinbarungsgemäß am 5.10.2009 mit der Ausführung ihrer Arbeiten. Bei den Arbeiten traten Verzögerungen auf, deren Ursachen zwischen den Parteien streitig sind. Diese Verzögerungen sind Gegenstand der von der Beklagten geltend gemachten Gegenforderung auf Zahlung von Verzugsschadensersatz.

Mit Schreiben vom 19.10.2009 forderte die Beklagte die Klägerin auf, mehr Personal auf der Baustelle einzusetzen und bis zum 22.10.2009 einen Terminplan für den Ablauf der weiteren Arbeiten vorzulegen. Unter dem 23.10.2009 rügte die Beklagte gegenüber der Klägerin, dass diese nach wie vor zu wenig Personal einsetze und dass sie den geforderten Terminplan nicht übersandt habe. Gleichzeitig erklärte die Beklagte, dass sie die Klägerin gem. § 5 Nr. 3 VOB/B in Verzug setze und dass sie sie auffordere, umgehend dafür Sorge zu tragen, dass die Baustelle mit genügend Arbeitskräften besetzt werde, um den Termin 20.11.2009 einzuhalten. Mit Schreiben vom 19.11.2009 beanstandete die Beklagte gegenüber der Klägerin, dass es trotz der vorangegangenen A...

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