Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftungsquote bei der Kollision eines abbiegenden Fahrzeugs mit einer Fußgängerin
Leitsatz (amtlich)
1. Wenn eine Fußgängerin im Bereich einer Kreuzung am Fahrbahnrand mit Blickrichtung zur gegenüberliegenden Straßenseite steht, muss ein einbiegender Fahrzeugführer damit rechnen, dass die Fußgängerin die Straße überqueren will. Der Fahrzeugführer muss in diesem Fall der Fußgängerin gem. § 9 Abs. 3 Satz 3 StVO den Vorrang gewähren.
2. Bei einem Verstoß des Fahrzeugführers gegen § 9 Abs. 3 Satz 3 StVO kann eine Haftungsquote von 50 % in Betracht kommen, wenn die Fußgängerin bei genügender Aufmerksamkeit vor dem Betreten der Straße das herannahende Fahrzeug ohne Schwierigkeiten hätte bemerken können.
Normenkette
StVO § 9 Abs. 3 S. 3; StVG § 9; BGB § 254 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Konstanz (Urteil vom 27.04.2012; Aktenzeichen 5 O 359/10 E) |
Tenor
Der Senat erwägt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des LG Konstanz vom 27.4.2012 - 5 O 359/10 E - gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Vorher erhalten die Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen.
Gründe
I. Die Klägerin macht Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 14.10.2009 gegen die Beklagten geltend. Die Klägerin wurde an diesem Tag als Fußgängerin bei einer Kollision mit einem Klein-Lkw, dessen Fahrerin und Halterin die Beklagte Ziff. 1 war, verletzt. Die Beklagte Ziff. 2 ist die für das Fahrzeug der Beklagten Ziff. 1 zuständige Haftpflichtversicherung.
Die Klägerin ging an dem betreffenden Tag auf dem linken Gehweg der E. straße in Singen in südlicher Richtung. Sie überquerte die einmündende T. Straße und wollte unmittelbar nach dieser Einmündung die E. straße überqueren. Nachdem sie zum Überqueren die Fahrbahn betreten hatte, kam es in etwa ein Meter Entfernung zum Bürgersteig zur Kollision mit dem Fahrzeug der Beklagten Ziff. 1. Diese war unmittelbar zuvor aus der T. Straße nach links in die E. straße, bei der es sich um eine Einbahnstraße handelt, eingebogen. Hierbei benutzte die Beklagte Ziff. 1 die linke der beiden Fahrspuren, wo sie mit der vorderen linken Ecke des Fahrzeugs die Klägerin erfasste, kurz nachdem diese die Fahrbahn betreten hatte. Die Klägerin wurde von dem Fahrzeug der Beklagten Ziff. 1 überfahren und erlitt schwere Verletzungen.
Das LG hat zur Unfallrekonstruktion ein Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. K. eingeholt. Aus dem Gutachten ergibt sich, dass sowohl für die Klägerin als auch für die Beklagte Ziff. 1 vor dem Unfall keine für das Geschehen ursächliche Sichtbehinderungen bestanden. Zu dem Zeitpunkt, als die Klägerin begann, die Fahrbahn zu überqueren, war die Beklagte Ziff. 1 bereits mit ihrem Fahrzeug ein Stück aus der T. Straße nach links in die E. straße eingefahren. Die Beklagte Ziff. 1 hatte ihren Anfahrvorgang aus der T. Straße bereits mindestens zwei Sekunden vor dem Betreten der Fahrbahn durch die Klägerin begonnen, so dass diese den Unfall hätte vermeiden können, wenn sie vor dem Überqueren der Straße auf das aus ihrer Sicht von rechts einfahrende Fahrzeug der Beklagten Ziff. 1 geachtet hätte. Das anfahrende Fahrzeug der Beklagten Ziff. 1 hatte zum Zeitpunkt der Kollision eine Geschwindigkeit von 16 - 17 km/h. Zu dem Zeitpunkt, als die Klägerin auf die Fahrbahn trat, konnte die Beklagte Ziff. 1 eine Kollision nicht mehr vermeiden, da die Klägerin die Kollisionsstelle bereits nach 0,7 - 1,0 Sek. erreichte. Eine erfolgreiche Bremsreaktion war zum Zeitpunkt des Betretens der Fahrbahn durch die Klägerin für die Beklagte Ziff. 1 nicht mehr möglich. Die Beklagte Ziff. 1 hätte nach dem Gutachten des Sachverständigen den Unfall jedoch durch eine rechtzeitige Bremsreaktion vermeiden können, wenn sie mit lediglich 7 - 10 km/h gefahren wäre. Außerdem hätte die Beklagte Ziff. 1 den Unfall vermeiden können, wenn sie angesichts der am Rand des Bürgersteigs der E. straße stehenden Klägerin zunächst abgewartet hätte, ob diese die Straße zum Zwecke des Überquerens betreten würde.
Das LG hat die Beklagten gesamtschuldnerisch antragsgemäß verurteilt, die Hälfte des materiellen Schadens der Klägerin zu ersetzen. Außerdem hat das LG der Klägerin, ausgehend von einem Mitverschulden von 50 %, ein Schmerzensgeld i.H.v. 25.000 EUR zugesprochen. Im Übrigen hat das LG eine Ersatzpflicht der Beklagten für materielle und künftige immaterielle Schäden festgestellt mit der Maßgabe, dass ein Mitverschulden der Klägerin von 50 % zu berücksichtigen ist.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie sind der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Haftung seien nicht gegeben. Der Unfall sei für die Beklagte Ziff. 1 ein unabwendbares Ereignis gewesen. Ursächlich sei alleine ein Verkehrsverstoß der Klägerin gewesen, die die Fahrbahn angesichts des herannahenden Fahrzeugs der Beklagten Ziff. 1 nicht hätte betreten dürfen. Die Beklagten greifen die Feststellungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. K. zur Unfallrekonstruktion nicht an. Sie sind jedoch der Meinun...