Leitsatz (amtlich)

1. § 9 Abs. 3 S. 3 StVO begünstigt den entgegenkommenden oder gleichgerichteten Längsverkehr und räumt dem eine Straßeneinmündung querenden Fußgänger auch außerhalb förmlicher Fußgängerüberwege generell eine vorrangähnliche Stellung ein. Die Vorschrift ist auch anwendbar, wenn ein Fußgänger aus Sicht des Fahrzeugführers längs der Fahrbahn eine Einmündung innerhalb der geschützten Querungstrasse überquert, selbst wenn die vom Fahrzeug befahrene Straße sich nach der Einmündung nicht fortsetzt (sog. "T-Kreuzung").

2. Das Vorrecht des Fußgängers nach § 9 Abs. 3 S. 3 StVO wird durch das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme gem. §§ 1 Abs. 1, 11 Abs. 3 StVO eingeschränkt. Betritt ein Fußgänger die Fahrbahn, obwohl er schon durch einen beiläufigen Blick hätte erkennen können, dass durch ein abbiegendes Kfz Gefahr droht, und kommt es sodann zu einer Kollision, kann dies zu einer Minderung der Schadensersatzansprüche des Fußgängers wegen Mitverschuldens führen.

 

Normenkette

BGB § 254; StVO § 1 Abs. 1, § 9 Abs. 3 S. 3

 

Verfahrensgang

LG Bochum (Urteil vom 16.12.2011; Aktenzeichen 2 O 278/10)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 16.12.2011 verkündete Urteil des LG Bochum teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin 304,58 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.8.2010 zu zahlen.

Die Beklagten werden weiterhin verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin ein Schmerzensgeld i.H.v. 16.968,24 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.8.2010 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle zukünftigen materiellen weiteren Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 23.3.2009 i.H.v. 75 % sowie alle künftigen immateriellen Schäden unter Berücksichtigung eines Mitverursachungsanteils der Klägerin von 25 % zu ersetzen, soweit ein Forderungsübergang auf Drittleistungsträger nicht stattgefunden hat.

Die Beklagten werden weiter verurteilt, die Klägerin von vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren i.H.v. 542,52 EUR freizustellen.

Die weiter gehende Klage wird abgewiesen; die weiter gehende Berufung sowie die Anschlussberufung der Beklagten werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 31 % und die Beklagten zu 69 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagten können die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

 

Gründe

A. Die Klägerin - an einem Verkehrsunfall als Fußgängerin beteiligt - macht Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte zu 1) als Fahrerin und Halterin des am Unfall beteiligten Pkw und die Beklagte zu 2) als Haftpflichtversicherer geltend.

Am 23.3.2009 befand sich die Klägerin gegen 16.41 Uhr auf dem südlichen Gehweg der X2 in X, als die Beklagte zu 1) mit ihrem Pkw auf der D2 auf die X2 zufuhr. Bei der D2 handelte es sich um eine Einbahnstraße, die in die X2 einmündete. Zu der Zeit regnete es, die Straße war nass. An der Einmündung D-Straße beabsichtigte die Beklagte zu 1), nach links in die X2 abzubiegen. Die Klägerin hingegen wollte die X2 an dieser nicht durch Verkehrszeichen geregelten Einmündung in Süd-Nord-Richtung überqueren. Als die Klägerin auf die Straße getreten war, kam es zur Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug.

Dabei erlitt die 62-jährige Klägerin eine Trümmerfraktur des außenseitigen Schienbeinkopfes, welche mittels Plattenosteosynthese stabilisiert werden musste. Post-operativ stellten sich zudem eine Unterschenkelthrombose sowie eine Arthrose mit X-Beinstellung des linken Beines ein. Der Klägerin, die bereits verrentet war, wurde eine sechsmonatige Arbeitsunfähigkeit attestiert. Es trat eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 % ein, die voraussichtlich anhalten wird. Zukünftig wird sehr wahrscheinlich eine Versorgung mittels Knie-Prothese aufgrund der entstandenen Arthrose erforderlich werden. Auf die der Klägerin entstandenen Sachschäden zahlten die Beklagten 3.095,28 EUR und auf den immateriellen Schaden 1.031,76 EUR.

Mit der Klage hat die Klägerin Ersatz der ihr darüber hinaus entstandenen Schäden geltend gemacht und dazu behauptet, sie habe die Fahrbahn nahezu vollständig überquert gehabt, als die Beklagte zu 1) abgebogen sei. Diese habe sie von hinten angefahren. Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, sich kein Mitverschulden anrechnen lassen zu müssen. Während eines Abbiegevorgangs eines Pkw habe ein Fußgänger Vorrang.

Die Klägerin hat einen materiellen Schadensersatz i.H.v. 1.437,87 EUR geltend gemacht, der sich aus Kosten für Taxifahrten, Arzneimittel, Krankengymnastik, Essen auf Rädern, Haushaltshilfe, Körper- und Fußpflege sowie eine Kostenpauschale abzgl. des bereits geleisteten Schadensersatzes zusammengesetzt hat. Zudem hat sie ein Schmerzensgeld i.H.v. mindestens 25.000...

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