Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Mitverschulden bei Schreckreaktion im Straßenverkehr
Leitsatz (amtlich)
1. Wenn eine Fußgängerin, die plötzlich und unerwartet durch einen Hund er-schreckt wird, in einem "Reflex" einen Schritt zur Seite macht, und dabei in die Fahrbahn eines herannahenden Fahrzeugs tritt, liegt in der Regel eine Handlung im Rechtssinne vor, da auch ein "automatisiertes" menschliches Verhalten grundsätzlich einer möglichen Bewusstseinskontrolle und Willenssteuerung unterliegt.
2. Bei einer Schreckreaktion in einer plötzlichen Gefahrensituation kann es je-doch an einem Verschulden der Fußgängerin auch dann fehlen, wenn die konkrete Handlung - Schritt zur Seite - zur Abwendung der Gefahr objektiv nicht notwendig war.
Normenkette
BGB § 254 Abs. 1, § 276 Abs. 2; StVO § 1 Abs. 2, § 25 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Konstanz (Urteil vom 17.12.2013; Aktenzeichen 5 O 334/12 T) |
Tenor
Der Senat erwägt eine Zurückweisung der Berufung der Klägerin gegen das Urteil des LG Konstanz vom 17.12.2013 gem. § 522 Abs. 2 ZPO. Die Parteien erhalten vor einer Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen.
Gründe
I. Die am 17.10.2000 geborene Klägerin macht Schadensersatzansprüche geltend aus einem Verkehrsunfall, der sich am 12.1.2012 gegen 07:05 Uhr in A. ereignet hat. Die Klägerin war an dem Unfall als Fußgängerin beteiligt, der Beklagte Ziff. 1 als Fahrer und Halter eines Pkw Opel. Die Beklagte Ziff. 2 ist die für das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 zuständige Haftpflichtversicherung.
Die Klägerin war zur Unfallzeit auf der H. straße in A. zu Fuß unterwegs, um zu einer Bushaltestelle zu laufen. Bei der H. straße handelt es sich um eine Sackgasse mit einer Fahrbahnbreite von etwa 3,50 m. Es gibt in der H. straße keine Gehwege. Die Klägerin lief auf der Fahrbahn und zwar - aus ihrer Sicht - am linken Fahrbahnrand. Der Beklagte Ziff. 1 kam mit seinem Pkw - mit geringer oder sehr geringer Geschwindigkeit - entgegen und wollte an der am Fahrbahnrand gehenden Klägerin vorbeifahren. Als sich der Beklagte Ziff. 1 auf der Höhe der Klägerin befand, lief diese gerade am Anwesen der Familie K. entlang. Zwischen dem Garten des Anwesens und der Straße befindet sich ein Maschendrahtzaun. Im Garten des Anwesens befand sich der Hund der Familie K.. Der Hund hatte sich, als die Klägerin am Zaun entlangging, angeschlichen und bellte plötzlich laut los, als er am Zaun war, und sprang gegen den Zaun. Die Klägerin hatte den Hund vorher nicht bemerkt und machte in diesem Moment vor Schreck einen Schritt nach rechts in die Fahrbahn. Dabei geriet sie gegen den rechten Außenspiegel des gerade vorbeifahrenden Fahrzeugs des Beklagten Ziff. 1. Der Kontakt mit dem Pkw führte dazu, dass die Klägerin das Gleichgewicht verlor und auf die Fahrbahn stürzte. Der Beklagte Ziff. 1 bremste sein Fahrzeug ab, kam jedoch mit einem Rad des Pkw auf dem rechten Sprunggelenk der Klägerin zum Stehen. Die Klägerin erlitt eine Unterschenkelfraktur. Es steht noch nicht fest, ob dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen zurückbleiben.
Das LG hat die Beklagten wie folgt verurteilt:
1. Die Beklagten Ziff. 1 und 2 werden verurteilt als Gesamtschuldner, an die Klägerin 95 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 15.11.2012 zu bezahlen.
2. Die Beklagten Ziff. 1 und 2 werden als Gesamtschuldner ferner verurteilt, an die Klägerin 3.000 EUR Schmerzensgeld zu bezahlen nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 15.5.2012.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagten Ziff. 1 und 2 als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtlichen zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfallereignis vom 12.1.2012, A., H. straße zu erstatten.
4. Die Beklagten Ziff. 1 und 2 werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung i.H.v. 256,62 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 15.11.2012 zu bezahlen.
Das LG hat ausgeführt, die Beklagten seien in vollem Umfang zum Schadensersatz verpflichtet. Die Haftung beruhe auf der Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten Ziff. 1. Ein Mitverschulden der Klägerin sei nicht zu berücksichtigen. Zwar habe sie den Unfall mitverursacht durch einen Schritt in die Fahrbahn. Der reflexartigen Reaktion fehle es jedoch an der Qualität einer Handlung, an welche rechtliche Konsequenzen zu ihrem Nachteil geknüpft werden könnten. Zudem könne sich aus der Schreckreaktion kein Fahrlässigkeitsvorwurf ergeben. Bei der Höhe des zuerkannten Schmerzensgeldes ist das LG hinter dem von der Klägerin angegebenen Betrag von 6.000 EUR zurückgeblieben, da die immateriellen Beeinträchtigungen der Klägerin - soweit es nicht um mögliche Zukunftsschäden gehe - durch einen Betrag von 3.000 EUR ausreichend abgegolten seien.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie sind der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Haftung aus dem Unfallg...