Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftungsquote bei Kollision eines vorbeifahrenden Pkw mit einer Fußgängerin, die in ihr geparktes Fahrzeug einsteigen will
Leitsatz (amtlich)
1. Streift ein Pkw im Vorbeifahren eine im rechten Bereich auf der Fahrbahn befindliche Fußgängerin, die sich anschickt, in ihr geparktes Fahrzeug einzusteigen, kommt eine Haftung des Pkw-Fahrers zu 100 % in Betracht, wenn ein schuldhafter Verkehrsverstoß der Fußgängerin nicht nachweisbar ist.
2. Der Fußgängerin fällt kein Verschulden zur Last, wenn sie dicht neben der geschlossenen Fahrertür ihres geparkten Fahrzeugs steht, und wenn sie - wegen einer unübersichtlichen Kurve - beim Betreten der Fahrbahn den später vorbeifahrenden Pkw noch nicht erkennen konnte.
3. Vorausgegangene Verkehrsverstöße der Fußgängerin beim Abstellen ihres Fahrzeugs spielen für die Haftungsquote keine Rolle, wenn der Schutz von vorbeifahrenden Fahrzeugen nicht zum Schutzbereich der verletzten Normen gehört. (Hier: Verbotenes Parken auf dem Gehweg und verbotenes Parken auf einem Schutzstreifen für den Radverkehr.) OLG Karlsruhe - 9 U 128/11 - Urteil vom 18.5.2012
Normenkette
StVG § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 1; StVG § 18 Abs. 1; BGB § 254 Abs. 1; StVO § 12 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 4 S. 1, § 14 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Freiburg i. Br. (Urteil vom 01.07.2011; Aktenzeichen 6 O 321/09) |
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des LG Freiburg vom 1.7.2011 - 6 O 321/09 - wird zurückgewiesen.
II. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des LG Freiburg vom 1.7.2011 - 6 O 321/09 - im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen wie folgt abgeändert:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin als Schmerzensgeld weitere 8.750 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 3.7.2009 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle zukünftigen materiellen Schäden zu ersetzen, welche aus dem Unfallgeschehen vom 29.11.2006 resultieren, soweit der jeweilige Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen ist.
3. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin für vorgerichtliche Anwaltskosten weitere 899,40 EUR zu zahlen nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 3.7.2009.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die weiter gehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
IV. Die Kosten werden wie folgt verteilt:
1. Die Kosten des Verfahrens vor dem LG tragen die Klägerin zu ¼ und die Beklagten als Gesamtschuldner zu ¾.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
V. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
VI. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin macht Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend.
Die Klägerin befand sich am 29.11.2006 gegen 17:00 Uhr in der W. straße in F. und wollte dort in ihren Pkw einsteigen, den sie so geparkt hatte, dass er teilweise auf dem rechten Bürgersteig in Fahrtrichtung K. straße stand. In diesem Moment fuhr der Beklagte Ziff. 1 mit seinem bei der Beklagten Ziff. 2 haftpflichtversicherten Pkw, Marke BMW, vom G. ring kommend an der Klägerin vorbei. Dabei wurde die Klägerin vom rechten Außenspiegel des Fahrzeugs des Beklagten Ziff. 1 berührt. Der Spiegel klappte dabei ein. Weitere Einzelheiten des Unfallablaufs sind teilweise streitig.
Die Beklagte Ziff. 2 leistete vorgerichtlich eine Zahlung i.H.v. 1.250 EUR auf Schmerzensgeldansprüche der Klägerin. Außerdem zahlte die Beklagte Ziff. 2 1.850 EUR, die einverständlich auf materielle Schadensersatzansprüche der Klägerin, die nicht Gegenstand des Rechtstreits sind, verrechnet wurden.
Die Klägerin hat vorgetragen, das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 habe sie nicht nur mit dem rechten Außenspiegel berührt. Vielmehr sei sie von dem Fahrzeugspiegel mit erheblicher Krafteinwirkung im Bereich des Beckens und der rechten Hüfte gerammt worden. Sie sei vom Spiegel und von der rechten Seite des Fahrzeugs gegen ihr eigenes Fahrzeug gedrückt worden. Sie sei erheblich verletzt worden. Verschiedene gesundheitliche Beeinträchtigungen seien dauerhaft.
Die Beklagten haben erstinstanzlich eingewandt, die Klägerin treffe bei dem Unfall ein erhebliches Mitverschulden. Im Übrigen haben die Beklagten bestritten, dass Verletzungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen der Klägerin entstanden seien.
Das LG hat sowohl zum Unfallablauf als auch zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin eine Beweisaufnahme durchgeführt. Mit Urteil vom 1.7.2011 hat das LG die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes an die Klägerin i.H.v. 5.750 EUR sowie zur Zahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten i.H.v. 837,52 EUR, jeweils nebst Zinsen. Außerdem hat das LG festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle zukünftigen materiellen Schäden zu ersetzen, soweit diese nicht auf Sozial...