Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslieferung eines ETA-Terroristen von Deutschland nach Frankreich

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Konkretisierung einer Ausschreibung in einem Europäischen Haftbefehl können auch Erkenntnisse deutscher Justiz- und Polizeibehörden herangezogen werden (hier: Ermittlungserkenntnisse des Generalbundesanwalts).

2. Behauptet der Verfolgte das Bestehen der deutschen Staatsangehörigkeit, so hat das Oberlandesgericht im Auslieferungsverfahren dies eigenständig zu prüfen und kann auch vor Abschluss eines laufenden Verwaltungsverfahrens eine Auslieferung für zulässig erklären, wenn die Eigenschaft des Verfolgten als Nichtdeutscher eindeutig feststeht.

3. Besteht für die dem Verfolgten zur Last gelegte Tat auch eine inländische Gerichtsbarkeit, so sind bei einem französischen Abwesenheitsurteil die Regeln der Vollstreckungsverjährung auch dann zugrunde zu legen, wenn dieser das Urteil nach seiner Überstellung durch einen Widerspruch nach Art. 489 der französischen Strafprozessordnung beseitigen kann.

4. Der Senat hält daran fest, dass es für das Merkmal des gewöhnlichen Aufenthalts in § 83b Abs. 2 IRG nicht nur darauf ankommt, dass der Verfolgte sich freiwillig ständig und für längere Zeit in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, sondern auch maßgeblich ist, ob sein Aufenthalt rechtmäßig ist. Bezüglich Bürgern der Europäischen Union, welchen nach Art. 6 Abs.1 Freizügigkeitsgesetz/EU innerhalb der Gemeinschaft Freizügigkeit gewährt ist, neigt der Senat jedoch zur Ansicht, einen Missbrauch dieses Rechts - etwa wie hier durch jahrelanges Leben im Inland unter falschen Personalien - im Rahmen des § 83b Abs. 2 Nr. 2 b IRG nicht beim Merkmal des "gewöhnlichen Aufenthalts", sondern bei dem des "schutzwürdigen Interesses" oder allenfalls im Rahmen der insoweit zu treffenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigen und entsprechend zu gewichten.

5. Liegt dem Auslieferungsersuchen ein Abwesenheitsurteil zugrunde und macht der Verfolgte im Falle seiner Überstellung von seinem Recht auf ein neues Verfahren Gebrauch, so kann auch bei einer Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung diese jedenfalls dann mit einem Rücküberstellungsvorbehalt versehen werden, wenn das ersuchende Staat eine solche Möglichkeit ausdrücklich anbietet (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 21.10.2010, C 306/09 - NJW 2011, 285).

 

Tenor

  1. Die Auslieferung des Verfolgten nach Frankreich zur Strafvollstreckung aufgrund der Europäischen Haftbefehle der Oberstaatsanwaltschaft beim Tribunal de Grande Instance O. vom 07. November 2014 (Az.: ....), vom 07. November 2014 (Az.: ....), vom 07. November 2014 (Az.: ....) und vom 03. April 2009 (Az.: ....) wird mit der Maßgabe für zulässig erklärt, dass

    1. der Verfolgte entsprechend der Zusicherung der Staatsanwaltschaft O. im Schreiben vom 23. Dezember 2014 nach seiner Überstellung nach Frankreich das Recht erhält, binnen zehn Tagen nach sodann zu erfolgender offizieller Bekanntmachung der in seiner Abwesenheit gegen ihn ergangenen Urteile des Tribunal de Grande Instance O. vom 13. Januar 2013 (Az.: ....), vom 13. Februar 2013, vom 10. Juli 2006 und vom 22. Oktober 2008 und Belehrung über sein Recht auf Wiederaufnahme gegen jedes dieser Urteile Widerspruch einzulegen, und er im Falle der Einlegung eines fristgerechten Widerspruchs bezüglich jeder Verurteilung das Recht auf Durchführung eines neuen Gerichtsverfahrens erhält, an dem er teilnehmen und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel erneut überprüft wird und das ursprüngliche Urteil aufgehoben werden kann,
    2. entsprechend der Zusicherung der französischen Justizbehörden im Schreiben vom 28. Juni 2015 nach Überstellung des Verfolgten nach Frankreich jedenfalls dann, wenn dieser gegen alle oben unter a. aufgeführten Urteile Widerspruch einlegt, im Falle eines oder mehrerer Schuldsprüche in dem bzw. den dann neu durchzuführenden Verfahren oder auf einen Antrag hin eine Zusammenrechnung der dort verhängten Strafen erfolgt, wobei hierbei in der Summe eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren nicht überschritten werden darf,
    3. der Verfolgte, falls er nach Überstellung nach Frankreich gegen eines oder mehrere der oben unter a. aufgeführten Urteile Widerspruch einlegt, entsprechend der Zusicherung der französischen Justizbehörden im Schreiben der Staatsanwaltschaft O. vom 23. Dezember 2014 infolge und aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg vom 21. Oktober 2010 (C 306/09) im Falle eines oder mehrerer Schuldsprüche das Recht erhält, auf seinen Wunsch zur Vollstreckung der Strafe bzw. Strafen in die Bundesrepublik Deutschland zurück überstellt zu werden,
    4. eine Aburteilung wegen Fälschung einer Verwaltungsurkunde durch französische Gerichte nicht zulässig ist, wenn der Verfolgte gegen das im Europäischen Haftbefehl der Oberstaatsanwaltschaft beim Tribunal de Grande Instance O. 03. April 2009 aufgeführte Abwesenheitsurteil des Tribunal de Grande Instance O. vom 22. Oktober 2008 nach seiner Auslieferung wirksam Widerspruch einlegt ...

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