Leitsatz (amtlich)
Für die Bestimmung des unionsautonom auszulegenden Begriffes des "gewöhnlichen Aufenthalts" eines Erblassers im Sinne des Art. 4 EuErbVO ist neben dem objektiven Kriterium des tatsächlichen Aufenthalts in subjektiver Hinsicht das Vorliegen eines animus manendi (Bleibewille) erforderlich. An dem fehlt es, wenn ein demenzkranker Erblasser gegen oder ohne seinen Willen in ein Pflegeheim im Ausland verbracht wurde, ohne dass der Erblasser über die reine Pflege hinausgehende Bindungen zu dem Land hatte, in dem er bis zu seinem Tod gepflegt wurde.
Normenkette
EuErbVO Art. 4; FamFG § 343 Abs. 2; IntErbRVG § 47 Nr. 2
Verfahrensgang
AG Singen (Aktenzeichen 26 VI 118/24) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Beteiligten wird der Beschluss des Amtsgerichts - Nachlassgericht - Singen vom 07.05.2024, Az. 26 VI 118/24, aufgehoben.
Die Sache wird an das Amtsgericht - Nachlassgericht - Singen zurückverwiesen.
Gründe
I. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die Frage, ob vorliegend die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit nach der EuErbVO gegeben ist.
Der am 12.07.1955 geborene Erblasser, ein deutscher Staatsangehöriger, ist am 10.10.2023 in einem Pflegeheim in Polen verstorben. Zuvor lebte er zusammen mit der Beteiligten, seiner (zweiten) Ehefrau, in der Z-Straße in 78... G (bzw. verschiedenen Pflegeheimen in Deutschland). Der Erblasser verstarb kinderlos.
Im Mai 2022 machte sich bei dem Erblasser eine zunehmende Demenz bemerkbar, die ihn zu einem Pflegefall machte. Nachdem eine häusliche Betreuung nur noch schwer bewerkstelligt werden konnte, wurde der Erblasser zunächst ab Ende Juni 2022 in verschiedenen Pflegeheimen in Deutschland versorgt. Ab dem 01.04.2023 lebte der Erblasser in einem Pflegeheim in Polen. Nach seiner aktiven Berufstätigkeit bezog der Erblasser Bezüge in Form einer Rente in Höhe von ca. 192 EUR pro Monat zuzüglich Pflegegeld in Höhe von ca. 1.861,92 EUR pro Monat. Der Erblasser hatte kein Vermögen in Polen, sein gesamtes Vermögen - maßgeblich bestehend aus einem Immobilien- und einem Gesellschaftsanteil - befand sich in G, er sprach kein polnisch und hatte familiäre sowie soziale Verbindungen allein nach Deutschland. Der Erblasser wurde von seiner Ehefrau gegen bzw. ohne seinen Willen in dem Pflegeheim in Polen untergebracht.
Mit öffentlicher Urkunde der Notarin Dr. S vom 14.03.2024, Urkundenverzeichnis UVZ ..., UZ ..., stellte die Beteiligte gegenüber dem Amtsgericht - Nachlassgericht - Singen einen Antrag auf Erteilung eines Erbscheins, wonach sie von dem Erblasser allein beerbt worden ist.
Das Amtsgericht - Nachlassgericht - Singen hat den Erbscheinsantrag der Beteiligten mit Beschluss vom 07.05.2024 mangels internationaler Zuständigkeit nach Art. 4 EuErbVO zurückgewiesen.
Gegen diesen der Beteiligten am 08.05.2024 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Beteiligten vom 28.05.2024.
Das Amtsgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 28.05.2024 nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.
Die Beteiligte hat die Beschwerde mit Schriftsatz vom 02.07.2024 begründet. Dort wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Erblasser entgegen der Auffassung des Amtsgerichts seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach wie vor im Sinne des Art. 4 EuErbVO in G hatte.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Beteiligten ist begründet.
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts - Nachlassgericht - Singen ist die deutsche Gerichtsbarkeit vorliegend nach Art. 4 EuErbVO zur Erteilung des Erbscheins international zuständig, da der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne dieser Norm in Deutschland hatte. Örtlich zuständig ist das Amtsgericht Singen. Daher ist der Beschluss des Amtsgerichts - Nachlassgericht - Singen aufzuheben und die Sache gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 FamFG an das Amtsgericht Singen zurückzuverweisen.
1. Nach Art. 4 EuErbVO ist die deutsche Gerichtsbarkeit zur Entscheidung über den beantragten Erbschein international zuständig.
a) Die internationale Zuständigkeit in Erbsachen für Erbfälle mit Auslandsbezug ab dem 17.08.2015 ergibt sich grundsätzlich aus Art. 4 ff. EuErbVO i.V.m. § 97 FamFG. Die EuErbVO ist ein europäischer Rechtsakt, der Vorrang vor den Vorschriften des FamFG hat (OLG Hamm, Beschluss vom 17.12.2019 - I-15 W 488/17, Rn. 3, juris).
Nach Art. 4 EuErbVO sind für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist unionsautonom auszulegen (vgl. BeckOGK/J. Schmidt, EuErbVO, Stand: 01.12.2023, Art. 4 Rn. 19; Dutta/Weber/Lein, Internationales Erbrecht, 2. Aufl. 2021, Art. 4 EuErbVO Rn. 9; Münchener Kommentar/Dutta, BGB, 9. Aufl. 2024, Art. 4 EuErbVO Rn. 3 mwN). Bei der Auslegung sind die Erwägungsgründe 23 und 24 der EuErbVO zu berücksic...