Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufenthaltsverbot im öffentlichen Raum. Coronaverordnung. verfassungskonforme Auslegung. Mindestabstand. Ordnungswidrigkeitenrecht. Zur Verfassungsmäßigkeit eines bußgeldbewehrten Aufenthaltsverbots im öffentlichen Raum nach der baden-württembergischen Corona-Verordnung (Frühjahr 2020)
Leitsatz (amtlich)
1. Das Infektionsschutzgesetz enthält mit den in §§ 28, 32, 73 Abs.1a Nr. 24 getroffenen Regelungen eine ausreichende, verfassungskonforme Ermächtigung für die in § 3 Abs.1 CoronaVO BW angeordnete Beschränkung des Aufenthalts im öffentlichen Raum und deren Bußgeldbewehrung in § 9 Nr. 1 CoronaVO BW.
2. Das Verbot des gemeinsamen Aufenthals mit mehr als einer nicht dem eigenen Haushalt zugehörigen Person im öffentlichen Raum ist im Hinblick auf den durch die gesetzliche Ermächtigung gezogenen Rahmen dahin auszulegen, dass es nur Zusammenkünfte erfasst, bei denen der Mindestabstand von 1,5 Metern unterschritten wird.
Normenkette
IfSG §§ 28, 32, 73 Abs. 1a Nr. 24; CoronaVO BW § 3 Abs. 1, § 9 Nr. 1
Verfahrensgang
AG Heidelberg (Entscheidung vom 20.11.2020; Aktenzeichen 18 OWi 230 Js 14237/20) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Heidelberg H. vom 20. November 2020 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Heidelberg H. verurteilte den Betroffenen mit Urteil vom 20.11.2020 wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 250 €.
Nach den im Urteil getroffenen Feststellungen hielt sich der Betroffene am 05.04.2020 um 19:15 Uhr mit drei anderen jeweils nicht zu seinem Hausstand gehörenden Personen auf dem Gelände einer Tankstelle auf, nachdem sie zuvor zu viert eine Motorradfahrt unternommen hatten. Der Betroffene und die getrennt verfolgten drei weiteren Personen standen - bei Einhaltung eines "gewissen, nicht weiter festgestellten Abstands" - für einen unbeteiligten Dritten deutlich erkennbar als Gruppe zwischen den Zapfsäulen zusammen, verzehrten ein Eis am Stiel und unterhielten sich für mindestens drei Minuten, wobei die Kommunikation über das Mindestmaß der gebotenen Höflichkeit im Sinne einer Begrüßung hinausging.
Die Verurteilung ist auf §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 9 Nr. 1 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung - CoronaVO) vom 17.3.2020 in der vom 29.3.2020 bis 9.4.2020 geltenden Fassung gestützt.
§ 3 Abs. 1 der Verordnung lautete in der zum Zeitpunkt der Tat maßgeblichen Fassung wie folgt:
Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts gestattet.
Zu anderen Personen ist im öffentlichen Raum, wo immer möglich, ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten.
§ 9 Nr. 1 der Verordnung in der zum Zeitpunkt der Tat maßgeblichen Fassung lautete wie folgt:
Ordnungswidrig im Sinne des § 73 Absatz 1a Nummer 24 des Infektionsschutzgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 3 Abs. 1 sich im öffentlichen Raum aufhält.
Zur Auslegung dieser Bestimmungen ist im angefochtenen Urteil ausgeführt:
"Der Begriff des Aufenthalts im öffentlichen Raum ist im Hinblick auf den Zweck des Infektionsschutzgesetzes, nämlich die weitere Ausbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern oder zumindest einzudämmen, zu definieren. Hierauf beruhend schränkt die Corona-Verordnung die Anzahl, die Dauer und Intensität der Kontakte zu nicht aus dem eigenen Haushalt, also dem unmittelbaren Lebensumfeld einer jeden Person stammenden Personen, ein. Vor diesem Hintergrund ist für einen gemeinsamen Aufenthalt mehrerer Personen im öffentlichen Raum i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 erforderlich, aber auch ausreichend, dass Personen zusammentreffen und dabei bewusst und mehr als nur flüchtig, also in einem dem Mindestmaß an Höflichkeit geschuldeten Umfang, in Kommunikation treten. Maßgeblich für die Beurteilung ist die Wahrnehmung eines objektiven Dritten. In diesem Fall kommt es dann auf die Einhaltung oder Unterschreitung des Mindestabstands von 1,5 Metern, der gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO für andere als die in § 3 Absatz 1 Satz 1 genannten Personen gilt, nicht mehr an."
Mit dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde macht der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts geltend. Insbesondere beanstandet er die rechtsfehlerhafte Anwendung von § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO in der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung durch das Amtsgericht, denn ein gemeinsamer Aufenthalt im Sinne von § 3 Abs. 1 S.1 der Corona-VO setzte stets kumulativ eine Unterschreitung des Mindestabstands von 1,5 Metern voraus. Die Rechtsbeschwerde sei zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe ≪leer≫ hat...