Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit und Auslegung des Aufenthaltsverbots im öffentlichen Raum in der baden-württembergischen Corona-Verordnung (Frühjahr 2020)
Leitsatz (amtlich)
1. Das Infektionsschutzgesetz ermächtigte in verfassungsrechtlich zulässiger Weise die Landesregierungen zu Regelungen durch Rechtsverordnung, im Frühjahr 2020 aus Anlass der Corona-Pandemie den Aufenthalt im öffentlichen Raum zu beschränken und Verstöße hiergegen als Ordnungswidrigkeit auszugestalten.
2. Das Verbot des gemeinsamen Aufenthalts mit mehr als einer nicht dem eigenen Haushalt zugehörigen Person im öffentlichen Raum ist im Hinblick auf den durch die gesetzliche Ermächtigung gezogenen Rahmen dahin auszulegen, dass es nur Zusammenkünfte erfasst, bei denen der Mindestabstand von 1,5 Metern unterschritten wird.
Verfahrensgang
AG Heidelberg (Entscheidung vom 14.09.2020) |
Tenor
- Die Staatsanwaltschaft wird ersucht, der Einstellung des Verfahrens gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 OWiG zuzustimmen.
- Der Betroffene und die Verwaltungsbehörde erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von zehn Tagen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Heidelberg verurteilte den Betroffenen mit Urteil vom 14.09.2020 wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 100 EUR und wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 500 EUR.
Nach den im Urteil getroffenen Feststellungen stand der Betroffene am 05.04.2020 zunächst um 16:20 Uhr mit zwei und dann um 18:00 Uhr mit drei anderen jeweils nicht zu seinem Hausstand gehörenden Personen an zwei verschiedenen Örtlichkeiten im öffentlichen Raum zusammen, mit denen er sich unterhielt, wobei die Kommunikation über das Mindestmaß der gebotenen Höflichkeit im Sinn eines "Hallo, wie geht's" hinausging. Der Abstand zwischen den Personen betrug bei dem ersten Vorkommnis etwa einen Meter, bei dem späteren Vorkommnis etwa anderthalb Meter.
Die Verurteilung ist auf §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 9 Nr. 1 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung - CoronaVO) vom 17.03.2020 in der vom 29.03.2020 bis 09.04.2020 geltenden Fassung gestützt.
§ 3 Abs. 1 der Verordnung lautete in der zum Zeitpunkt der Tat maßgeblichen Fassung wie folgt:
Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts gestattet.
Zu anderen Personen ist im öffentlichen Raum, wo immer möglich, ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten.
§ 9 Nr. 1 der Verordnung in der zum Zeitpunkt der Tat maßgeblichen Fassung lautete wie folgt:
Ordnungswidrig im Sinne des § 73 Absatz 1a Nummer 24 des Infektionsschutzgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 3 Abs. 1 sich im öffentlichen Raum aufhält.
Zur Auslegung dieser Bestimmungen ist im angefochtenen Urteil ausgeführt: "Der Begriff "Aufenthalt" im öffentlichen Raum ist zu definieren im Hinblick auf den Zweck des Infektionsschutzgesetzes, nämlich die weitere Ausbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Hierauf beruhend schränkt die Corona-Verordnung die Anzahl, Dauer und Intensität des Kontakts von nicht aus dem eigenen Haushalt, also dem unmittelbaren Lebensumfeld einer jeden Person stammender Kontakte ein. Vor diesem Hintergrund ist für einen gemeinsamen "Aufenthalt" mehrerer Personen im öffentlichen Raum i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 erforderlich aber auch ausreichend, dass Personen zusammentreffen und dabei bewusst und mehr als nur flüchtig, d.h. in einem dem Mindestmaß an Höflichkeit geschuldeten Umfang, in Kommunikation treten. Maßgeblich für die Beurteilung ist die Wahrnehmung eines objektivierten Dritten. In diesem Fall kommt es auf die Einhaltung oder Überschreitung des Mindestabstands von 1,5 Metern, der gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-Verordnung für andere als die in Absatz 1 Satz 1 genannten Personen gilt, nicht mehr an."
Mit der Rechtsbeschwerde bzw. dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde macht der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts geltend. Insbesondere beanstandet er, dass das Amtsgericht seiner rechtlichen Beurteilung nicht gemäß § 4 Abs. 3 OWiG die im Urteilszeitpunkt geltende (für den Betroffenen günstigere) Fassung der Corona-Verordnung zugrunde gelegt hat, sowie die Auslegung von § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO in der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung.
Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat am 04.02.2021 beantragt, hinsichtlich der Verurteilung zu der Geldbuße von 100 EUR die Rechtsbeschwerde zuzulassen, diese aber insgesamt als unbegründet zu verwerfen. Der Betroffene hat hierauf mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 25.03.2021 erwidert.
Der originär zuständige Einzelrichter hat mit Beschluss vom 30.03.2021 die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des materiellen Rechts zugelassen und die Sache auf den Senat in der Besetzung mit drei...