Entscheidungsstichwort (Thema)
Verkehrssicherungspflicht eines Bauunternehmers bei Straßenbauarbeiten
Leitsatz (amtlich)
1. Wird auf einer Straße der Fahrbahnbelag im Zusammenhang mit Aufgrabungsarbeiten erneuert, darf die Straße nach dem Auffräsen des Asphaltbelags nur dann in einem provisorischen Zustand für den Verkehr freigegeben werden, wenn dies nicht mit Gefahren für den Verkehr verbunden ist. Ist bei einem provisorischen Zustand der Fahrbahn mit Gefahren für Verkehrsteilnehmer zu rechnen, muss die Straße im Gefahrenbereich bis zur Wiederherstellung des Asphaltbelags gesperrt bleiben.
2. Ist im Bereich der Baustelle mit Radfahrern zu rechnen, muss der Bauunternehmer Rutschgefahren für Radfahrer berücksichtigen, wenn diese bei einem provisorischen Fahrbahnzustand lockeres Material überfahren müssen; das gilt in besonderem Maß, wenn Radfahrer im Bereich einer Einmündung eine Kurvenfahrt ausführen müssen.
3. Eine Fahrradfahrerin braucht auf asphaltierten Straßen in einem Wohngebiet normalerweise nicht damit zu rechnen, dass der Asphaltbelag wegen einer Baustelle an einer bestimmten Stelle nicht mehr vorhanden ist. Ohne einen besonderen Warnhinweis ist zudem nicht zu erwarten, dass die Radfahrerin in einer solchen Situation den Grad der Gefährlichkeit rechtzeitig einschätzen kann, wenn sie in einer Kurvenfahrt plötzlich lockeres Material an Stelle des Asphaltbelags erkennt.
4. Bei einer 55-jährigen Fahrradfahrerin kommt bei einer Ellenbogenverletzung durch eine Radiusköpfchentrümmerfraktur ein Schmerzensgeld von 8.500 EUR in Betracht, wenn die Verletzung dauerhaft mit Beeinträchtigungen durch Schmerzen und Einschränkungen der Lebensführung im Freizeitbereich verbunden ist.
Normenkette
BGB § 253 Abs. 2, § 254 Abs. 1, § 823 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Freiburg i. Br. (Aktenzeichen 14 O 137/17) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 11.03.2019 - 14 0 137 / 17 - im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen wie folgt abgeändert:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 8.500,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.06.2017 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin materiellen Schadensersatz in Höhe von 2.489,19 EUR zu zahlen, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 2.184,48 EUR seit dem 14.06.2017, und aus weiteren 304,71 EUR seit dem 01.09.20217.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 413,64 EUR zu zahlen, nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.09.2017.
4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus dem Unfall vom 14.09.2016 im Kreuzungsbereich F.Weg/Am W. in E. künftig entstehen, mit Ausnahmen der Ansprüche, die auf Dritte, vor allem Versicherungen oder Sozialversicherungsträger, übergehen.
5. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen tragen die Klägerin zu 3/10, die Beklagte zu 7/10.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin macht gegen die Beklagte Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend nach einem Fahrradsturz in E. am 14.09.2016.
Am 14.09.2016 gegen 10:45 Uhr befuhr die Klägerin mit ihrem Fahrrad die bergabwärts führende Straße F.Weg in E.. An der Kreuzung mit der Straße Am W. wollte die Klägerin nach links abbiegen. Im F.Weg fanden zu dieser Zeit Straßenbauarbeiten statt; die Beklagte war als Bauunternehmen von der Stadtwerke E. GmbH beauftragt worden, Leitungen in der Straße zu verlegen und die erforderlichen Bauarbeiten durchzuführen. Im Zuge dieser Arbeiten wurde auf dem F.Weg - aus der Fahrtrichtung der Klägerin im linken Bereich - der Teer aufgefräst, ein Graben ausgehoben, Leitungen verlegt, der Graben anschließend wieder verfüllt und die Straße wieder asphaltiert. Beim Abbiegen nach links in die Straße Am W. musste die Klägerin den Bereich, in dem die Leitungen verlegt wurden, queren. In dem Bereich der Kreuzung, wo die Leitungen verlegt werden sollten, war die Asphaltdecke nicht mehr vorhanden. Während des Linksabbiegens rutschte das Hinterrad des Fahrrads der Klägerin nach rechts weg, die Klägerin stürzte und erlitt Verletzungen im Bereich des linken Ellenbogens und im Bereich des linken Handgelenks. Über den Zustand der teilweise nicht asphaltierten Straßenoberfläche im Bereich der Kreuzung und über die Rutschfestigkeit besteht zwischen den Parteien Streit.
Die Klägerin hat im Verfahren vor dem Landgericht ihre Verletzungen und die Auswirkungen der Unfallfolgen auf ihr Leben im Einzelnen dargelegt. Sie hat von der Beklagten Zahlung von Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz, insbesondere für einen Haushaltsführungsschaden, ...