Leitsatz (amtlich)

1. Zur Darlegung einer vom Fahrzeughersteller begangenen vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (§ 826 BGB) bei der Verwendung eines Emissionskontrollsystems, dessen Steuerung ein sog. "Thermofenster" zur temperaturabhängigen Reduktion der Abgasrückführung und eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung umfasst.

2. Im vorliegenden Fall besteht ein Anspruch auf Ersatz eines nach Maßgabe der Differenzhypothese entstandenen Vermögensschadens nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 5 VO 715/2007/EG und den Vorschriften der EG Fahrzeuggenehmigungsverordnung, insbesondere § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG FGV, wegen der Erteilung einer unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung aufgrund der Verwendung des "Thermofensters" und der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung.

3. Voraussetzung für eine Entlastung vom diesbezüglichen Fahrlässigkeitsvorwurf ist nicht nur die Unvermeidbarkeit eines (hypothetischen) Verbotsirrtums, sondern zunächst das Vorliegen des Verbotsirrtums als solchen beim Schädiger.

4. Die Höhe des Differenzschadens wird im vorliegenden Fall auf 10 % des Kaufpreises geschätzt.

5. Der Schaden ist im vorliegenden Fall nicht durch den Umstand gemindert, dass für das Fahrzeug ein Software-Update zur Verfügung steht, nach dem die Rate der Abgasrückführung bei betriebswarmem Motor erst unterhalb von Umgebungslufttemperaturen von 0 °C und oberhalb von Umgebungslufttemperaturen von 40 °C schrittweise reduziert werden mag und die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung entfernt sein mag.

6. Zur Schätzung der vom Kläger gezogenen Nutzungsvorteile schätzt der Senat die zu prognostizierende Gesamtlaufleistung des hier gegenständlichen Fahrzeugs unter Berücksichtigung des Fahrzeugtyps und des Baujahrs auf 250.000 km.

7. Zur Schätzung (§ 287 ZPO) des erzielbaren Verkaufserlöses, in dem sich der Restwert spiegelt, kann das Gericht - auch unter Berücksichtigung der Darlegungs- und Beweislast des Schädigers - Internetplattformen heranziehen, jedenfalls wenn der Parteivortrag hinreichende Anhaltspunkte bietet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auf Internetangebots-Plattformen genannte Preise die Vorstellung des Anbieters darstellen und der im Rahmen eines etwa folgenden Verkaufs nach Verhandlungen mit dem Käufer tatsächlich vereinbarte Preis häufig geringer sein wird und dass in Angeboten gewerblicher Verkäufer eine Händlermarge bezogen auf den Wert des Fahrzeugs enthalten sein wird, um die der Preis des gewerblichen Angebots denjenigen übersteigt, den ein Verbraucher bei Verkauf an einen Gebrauchtwagenhändler oder direkt an einen Endabnehmer wird erzielen können.

8. Eine den Beginn der Verjährung nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB auslösende wenigstens grob fahrlässige Unkenntnis des Gläubigers von der anspruchsbegründenden Unrichtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung vor dem Jahr 2017 ist hier nicht dargelegt.

9. Zwischen dem Hersteller und dem Erwerber eines Fahrzeugs kommt mit der Ausstellung der EG-Übereinstimmungsbescheinigung kein Garantievertrag gemäß § 443 BGB zustande (Bestätigung von OLG Karlsruhe, Urteil vom 26. Januar 2022 - 6 U 128/20, juris Rn. 44).

10. Es bleibt dahingestellt, ob der Käufer eines Fahrzeugs gegen einen am Kaufvertrag nicht beteiligten Hersteller einen Anspruch nach § 280 Abs. 1 BGB i.V.m. § 241 Abs. 2, § 311 Abs. 3 BGB auf Ersatz des Vertrauensschadens wegen der Hinausgabe einer unzutreffenden EG-Übereinstimmungsbescheinigung hat. Ein solcher Anspruch kann jedenfalls ohne Arglist des Herstellers nicht zu einem weitergehenden Ersatz führen als der aufgrund derselben Handlung in Betracht kommende deliktische Anspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG FGV.

 

Verfahrensgang

LG Mannheim (Urteil vom 04.11.2020; Aktenzeichen 1 O 65/20)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 4. November 2020, Az. 1 O 65/20 im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen wie folgt geändert:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3.660 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 28. Mai 2020 zu zahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die weitergehende Berufung des Klägers gegen das vorbezeichnete Urteil wird zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 90 % und die Beklagte zu 10 %.

IV. Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jede Partei kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des gegen sie vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

A. Der Kläger nimmt die beklagte Herstellerin und Verkäuferin des von ihm aufgrund Kaufvertrags vom Juni 2012 mit einer Laufleistung von 3.000 km bei Übergabe im Jahr 2012 erworbenen Fahrzeugs der Handelsbezeichnung X (Erstzulassung 3. Mai 2012) u.a. auf Rückzahlung des von ihm geleisteten Kaufpreises von 36.600 EUR in Anspruch, gestützt auf insbeso...

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