Leitsatz (amtlich)
1. Auch bei einer schweren Grunderkrankung (hier maligne Tumore in beiden Augen) mit erheblicher Beeinträchtigung der Sehfähigkeit rechtfertigt die erst durch einen Behandlungsfehler notwendige Entfernung beider Augäpfel ein Schmerzensgeld in Form eines Kapitalbetrages und einer Schmerzensgeldrente.
2. Der zuerkannte Betrag darf unter Berücksichtigung der kapitalisierten Rentenverpflichtung nicht außerhalb des sonst für vergleichbare Verletzungen üblichen Entschädigungsrahmens liegen, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalls dies gebieten.
Normenkette
BGB a.F. § 823; BGB § 847; pVV
Verfahrensgang
LG Karlsruhe (Urteil vom 18.09.2006; Aktenzeichen 10 O 521/03) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des LG Karlsruhe vom 18.9.2006 - 10 O 521/03 - im Kostenpunkt aufgehoben und in Ziff. 1 des Urteilsausspruchs wie folgt abgeändert:
1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1 90.000 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 25.9.2003 zu zahlen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Von den außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 2 und 3 im ersten Rechtszug tragen der Beklagte 4/5 und die Kläger zu 2 und 3 1/5. Die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 2 und 3 im Berufungsrechtszug trägt der Beklagte.
Die übrigen Kosten des Rechtsstreits werden zwischen dem Kläger zu 1 und dem Beklagten aufgehoben.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Zwangsvollstreckung kann gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abgewendet werden, sofern nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Der am 24.4.1998 geborene Kläger zu 1 litt in beiden Augen an Retinoblastomen (bösartige Tumore), die zu einer Entfernung beider Augäpfel führten. Die Kläger werfen dem Beklagten vor, die Erkrankung nicht rechtzeitig erkannt zu haben.
Das LG, auf dessen Urteil wegen des Sach- und Streitstands im ersten Rechtszug sowie der getroffenen Feststellungen Bezug genommen wird, hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger zu 1 ein Schmerzensgeld von 260.000 EUR und eine monatliche Schmerzensgeldrente von 260 EUR zu zahlen sowie den Klägern zu 2 und 3, den Eltern des Klägers zu 1, materiellen Schaden i.H.v. 3.167,99 EUR zu ersetzen. Weiterhin hat es festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, den Klägern weitere materielle Schäden sowie dem Kläger zu 1 auch weitere immaterielle Schäden zu ersetzen, die diesen aus der fehlerhaften Behandlung des Klägers zu 1 vom 24.8.1998 bis 21.1.1999 entstanden ist und noch entstehen werden. Der Beklagte habe einen groben Behandlungsfehler begangen, als er es am 24.8.1998, spätestens aber am 19.11.1998 unterlassen habe, eine augenärztliche Abklärung des Schielens des Klägers zu 1 zu veranlassen. Der Beklagte habe nicht den ihm obliegenden Beweis erbringen können, dass nicht zumindest das linke Auge bei einer Abklärung im August oder November 1998, wenn auch mit reduzierter Sehschärfe hätte erhalten werden können.
Mit seiner Berufung wendet sich der Beklagte gegen seine Verurteilung und begehrt weiterhin die Abweisung der Klage. Anlässlich der Vorsorgeuntersuchung U4 im August sei ein fehlerhaftes Verhalten nicht gegeben, anlässlich der Vorsorgeuntersuchung U5 vom 19.11.1998 sei jedenfalls kein grober Behandlungsfehler anzunehmen. Darüber hinaus sei jedenfalls der Verlust beider Augen nicht einem Fehlverhalten des Beklagten zuzuordnen, und im Übrigen seien auch das Schmerzensgeld und die Schmerzensgeldrente übersetzt.
Die Kläger verteidigen das landgerichtliche Urteil und beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des Weiteren Sach- und Streitstands im zweiten Rechtszug wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Der Senat hat Beweis erhoben durch die Erläuterung und Ergänzung der im ersten Rechtszug erstatteten Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. L. (Kinderophthalmologie) und Prof. Dr. N. (Pädiatrie). Wegen des Beweisergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift vom 4.9.2007 (II 125 ff.) verwiesen.
II. Die Berufung des Beklagten ist zulässig und hat Erfolg, soweit er die Höhe des Schmerzensgeldes angreift.
1. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Schmerzensgeldanspruch gem. § 847 BGB in der bis zum 31.7.2002 geltenden Fassung (Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB), weil der Beklagte ihn am 19.11.1998 anlässlich der Vorsorgeuntersuchung U5 nicht zu einem Augenarzt überwiesen hat, was zur Diagnose der Retinoblastome geführt und eine vollständige Erblindung des Klägers verhindert hätte. Darin liegt ein Behandlungsfehler, der eine rechtswidrige schuldhafte Gesundheitsbeschädigung des Klägers zu 1 gem. § 823 Abs. 1 BGB darstellt.
a) Nach den überzeugenden Ausführungen in den kinderärztlichen Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. N. vom 1.3.2005 und der Anhörung vom 4.9.2002 ist der Senat ebenso wie das LG davon überzeugt, dass es einen Behandlungsfehle...