Leitsatz (amtlich)
1. Eine Person nichtbinärer Geschlechtsidentität, die beim "Online-Shopping" nur zwischen den Anreden "Frau" oder "Herr" auswählen kann, wird unter Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz wegen des Geschlechts benachteiligt und in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt.
2. Es besteht jedoch gegen das die Webseite betreibende Unternehmen kein Anspruch auf Unterlassung weiterer Beeinträchtigungen, wenn die Wiederholungsgefahr durch weitere Maßnahmen, insbesondere die Ergänzung des Anredefelds durch eine geschlechtsneutrale Möglichkeit ("Divers/keine Anrede"), ausgeräumt wird.
3. Ein Anspruch auf Ersatz eines immateriellen Schadens besteht nicht, wenn - wie im Streitfall - die eingetretene Diskriminierung nicht die dafür erforderliche Intensität erreicht.
Normenkette
AGG §§ 3, 20-21; BGB § 249 Abs. 2 S. 1, §§ 253, 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1 S. 2; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Mannheim (Aktenzeichen 9 O 188/20) |
Tenor
1. Die Berufung der klagenden Person gegen das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 07.05.2021, Az. 9 O 188/20, wird zurückgewiesen.
2. Die klagende Person hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Dieses Urteil und das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Mannheim sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die klagende Person nimmt die Beklagte auf eine Entschädigung in Geld in Höhe von jedenfalls EUR 2.500,00 und Unterlassung in Anspruch, weil sie sich bei der Nutzung von Angeboten der Beklagten und in der Kommunikation mit ihr wegen ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert sieht.
Die klagende Person besitzt eine nicht-binäre Geschlechtsidentität, ist also weder männlich noch weiblich zugeordnet.
Die Beklagte ist ein mittelständisches Bekleidungsunternehmen mit Sitz in M., das unter anderem über seine Webseite Waren online verkauft.
Die klagende Person bestellte am 19.10.2019 über diese Webseite zwei Laufhosen. Für die Registrierung und den Kauf war eine Auswahl zwischen den beiden Anreden "Frau" oder "Herr" erforderlich. Eine dritte Auswahl gab es zum damaligen Zeitpunkt nicht (Muster, Anlage K 2).
Die klagende Person hat am 24.10.2019 beim Standesamt der Stadt M. erwirkt, dass in ihren Personenstandsdaten sowie im Pass unter der Rubrik "Geschlecht" eingetragen wurde "ohne Angabe" (Anlage K 1). Die klagende Person besuchte am 15.11.2019 erneut den unveränderten Internetauftritt der Beklagten, um Kleidung zu erwerben. Der getätigte Kauf wurde am 15.11.2019 unter der Anrede "Sehr geehrter Herr Bell" bestätigt (Anlage K 3).
Mit anwaltlichem Schreiben vom 07.01.2020 machte die klagende Partei sodann Ansprüche nach dem AGG auf Schmerzensgeld in Höhe von 2.500,00 EUR, Unterlassung weiterer Diskriminierungen und die Übernahme der außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten sowie Datenauskünfte nach der DSGVO geltend (Anlage K 4). Die Beklagte lehnte die Ansprüche im Wesentlichen ab (Anlage K 5).
Die Beklagte hat seit Februar 2020 die Anredeoption "divers" in der Registrierungsmaske ihres Onlineshops eingeführt. Wird diese Option gewählt, erscheint in der Kaufbestätigung und in späteren Schreiben nur noch "Guten Tag" und der Vor- und Nachname der bestellenden Person.
Im weiteren Verlauf hat die Beklagte am 19.04.2021 den Internetauftritt erneut geändert. Neben "Herr" und "Frau" befindet sich nun die Rubrik "Divers/keine Anrede" (Anlage Bekl.).
Wegen des streitigen Vortrags in erster Instanz, der in erster Instanz gestellten Anträge, des Tenors und der Entscheidungsgründe wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen, durch die das Landgericht die Klage abgewiesen hat. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, mangels Benachteiligung ergebe sich ein Unterlassungsanspruch nicht aus § 21 Abs. 1 S. 2 AGG. Insoweit liege weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Benachteiligung im Sinne von § 3 Abs. 1, 2 AGG vor, denn es fehle an jedem Bezug zur vertraglichen Leistung. Der Anwendungsbereich könne auch nicht durch Annahme einer vertraglichen Nebenpflicht zur Unterlassung von Benachteiligungen eröffnet werden. Auch ein Unterlassungsanspruch aus den §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog stehe der klagenden Person nicht zu. Zwar liege eine Beeinträchtigung der klagenden Person in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht vor. Die Beklagte sei dem nachvollziehbaren und verständlichen Wunsch der klagenden Person auf eine geschlechtsneutrale Anrede aber im Laufe des Rechtsstreits in ausreichender Form bereits durch Aufnahme des Anredebuttons "Divers" nachgekommen, so dass der grundsätzlich bestehende Anspruch erfüllt worden sei. Durch den nunmehr vorgesehenen Button "Divers/keine Anrede" müsse sich die klagende Person noch nicht einmal festlegen, ob sie als geschlechtslos bezeichnet werden wolle oder als eine Person mit einem Geschlecht außerhalb von weiblich oder männlich (divers). Sie werde jedenfalls nur noch mit der Höflichkeitsform "Guten Tag" angesprochen und mit dem Vor- ...