Verfahrensgang
AG Bingen am Rhein (Entscheidung vom 24.10.2022) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Bingen am Rhein vom 24. Oktober 2022 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Bingen am Rhein zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Bingen hat den Betroffenen in seiner Anwesenheit am 24. Oktober 2022 wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 72 km/h zu einer Geldbuße von 1.200,- Euro verurteilt und ein Fahrverbot von zwei Monaten verhängt. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner am 27. Oktober 2022 eingelegten und nach Zustellung des Urteils am 14. November 2022 mit Schriftsatz seines Verteidigers - eingegangen am 14. Dezember 2022 - mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründeten Rechtsbeschwerde.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, wie erkannt zu entscheiden.
II.
Das Rechtsmittel ist zulässig und erzielt mit der Sachrüge einen jedenfalls vorläufigen Erfolg. Die Entscheidung des Amtsgerichts beruht auf einer lückenhaften Beweiswürdigung und lückenhaften Feststellungen, da es an der Darstellung fehlt, ob und inwieweit sich der Betroffene zum Tatvorwurf eingelassen hat und welcher Toleranzwert bei der durch ein standardisiertes Messverfahren festgestellten Geschwindigkeit berücksichtigt wurde.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat sich in ihrer Stellungnahme vom 6. Januar 2023 insoweit der Begründung der Rechtsbeschwerde angeschlossen und zur Rechtsfehlerhaftigkeit von Beweiswürdigung und Feststellungen Folgendes ausgeführt:
"Das Urteil ist - auch eingedenk des Umstandes, dass an die Urteilsgründe in Bußgeldverfahren keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen sind - bereits deshalb aufzuheben, weil die Beweiswürdigung in Bezug auf die getroffenen Feststellungen lückenhaft ist; diese vermag daher dieselben nicht in einer für das Rechtsbeschwerdegericht rechtlich überprüfbaren Weise zu tragen. So müssen die schriftlichen Urteilsgründe nicht nur die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, sondern neben anderem auch erkennen lassen, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob der Richter der Einlassung folgt oder diese für widerlegt ansieht (OLG Celle, Beschluss vom 9. April 2020 - 1 Ss (OWi) 4/20 -, juris; OLG Celle, Beschluss vom 27. September 2019 - 2 Ss Owi 260/19 -; OLG Bamberg, Beschluss vom 9. Juli 2009 - 3 Ss OWi 290/09 -, juris). Es bedarf einer geschlossenen und zusammenhängenden Wiedergabe der wesentlichen Grundzüge der Einlassung (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 8. Februar 2017 -2 (10) SsBs 740/16-AK 265/16, DAR 2017, 395). Jedenfalls dann, wenn die Möglichkeit besteht, dass sich der Betroffene in eine bestimmte Richtung verteidigt hat und nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Tatrichter die Bedeutung dieser Erklärung verkannt oder sie rechtlich unzutreffend gewürdigt hat, stellt diese Säumnis einen sachlich rechtlichen Mangel des Urteils dar (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Oktober 2016 -1 Ss 55/06- juris).Vorliegend lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, ob sich der Betroffene in der Hauptverhandlung zur Sache überhaupt geäußert oder von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat. Folglich verhält sich das Urteil auch nicht dazu, ob der Tatrichter eine etwaige Einlassung, und ggf. in welchem Umfang, für widerlegt angesehen hat.
Darüber hinaus leidet das Urteil an einem weiteren Darstellungsmangel, der ebenfalls zur Aufhebung führt. Da es sich bei dem hier nach den Feststellungen zum Einsatz gelangtem Messverfahren (Vitronic Poliscan speed M1) um ein standardisiertes Messverfahren handelt (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 13.05.2016 - 2 Owi 4 SsRs 128/15), reicht es zur Darstellung der Beweiswürdigung zu der gefahrenen Geschwindigkeit, wenn in den Urteilsgründen neben der Bezeichnung des eingesetzten Messverfahrens die gefahrene Geschwindigkeit und der berücksichtigte Toleranzwert mitgeteilt wird (BGH, NZV 1993, 485, 487; KG, Beschluss vom 20. März 2018 - 3 Ws (B) 86/18-​162 Ss 37/18, beck-​online; OLG Koblenz, Beschluss vom 11. August 2021 - 1 OWi 32 SsBs 145/21 -). Auf Angaben zum Messverfahren und Toleranzwert kann bei Geschwindigkeitsverstößen nur in den wenigen Fällen eines echten "qualifizierten" Geständnisses des Betroffenen verzichtet werden (BGH NJW 1993, 3081; OLG Bamberg, NStZ-​RR 2007, 321; OLG Celle, Beschluss vom 9. April 2009, 322 SsBs 301/08, juris).
Diesen Anforderungen genügt das Urteil nicht, da das Tatgericht es versäumt hat, den Umfang des gewährten Toleranzabzugs anzugeben. Zwar kann den Urteilsgründen entnommen werden, dass die Tatrichterin einen Toleranzabzug vorgenommen hat, nicht jedoch, in welchem Umfang dies geschehen ist. Das Rechtsbeschwerdegericht kann daher nicht prüfen, ob der abgezogene Toleranzwert rechtsfehlerfrei war und die festgestellte Gesc...