Leitsatz (amtlich)
1. Den Wartepflichtigen, der in eine Vorfahrtsstraße einbiegen möchte, trifft eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, die es mit sich bringt, dass er sich auf den Vertrauensgrundsatz nur in eingeschränkter Weise berufen kann und mit einem verkehrswidrigen Verhalten des Vorfahrtsberechtigten - von groben Verkehrsverstößen abgesehen - grundsätzlich rechnen muss.
2. Weist ein Einmündungsbereich eine Y-ähnliche Besonderheit auf, bei der ein auf der Vorfahrtsstraße fahrendes Fahrzeug ungebremst in die untergeordnete Straße "abbiegen" kann, ist mit einer deutlichen Geschwindigkeitsherabsenkung des Vorfahrtsberechtigten nicht zu rechnen, so dass erst der Beginn von dessen Abbiegevorgang - hier das Überfahren der gestrichelten Linie in die geradeaus weiterführende, untergeordnete Straße hinein - dem Wartepflichtigen eine hinreichende Sicherheit für die Einleitung seines eigenen Einbiegevorgangs vermittelt.
Verfahrensgang
LG Koblenz (Aktenzeichen 5 O 176/18) |
Tenor
1) Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 11.03.2019, Az. 5 O 176/18, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
"Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 3.602,98 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 25.05.2018 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin den ihr infolge der unfallbedingten Inanspruchnahme der zum Unfallzeitpunkt bei der G. Versicherung AG bestehenden Kaskoversicherung entstehenden Prämienverlust hälftig zu ersetzen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen."
2) Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
3) Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits zu 2/3 zu tragen, die Klägerin zu 1/3.
4) Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Der streitgegenständliche Verkehrsunfall ereignete sich an einer Y-ähnlichen Straßeneinmündung. Der aus der wartepflichtigen Straße kommende Beklagte zu 1. hatte dabei den - tatsächlich unzutreffenden - Eindruck, dass das sich von links nähernde Fahrzeug der Zeugin W., an welchem kein Blinker gesetzt war, nicht der leicht abknickenden Vorfahrtsstraße folgen, sondern "geradeaus" in die von ihm befahrene Nebenstraße weiterfahren werde. Er leitete daher seinen eigenen Einbiegevorgang auf die vorfahrtsberechtigte Straße ein. Dies zwang die Zeugin W. zu einer Vollbremsung, woraufhin das ihr nachfolgende klägerische Fahrzeug auf deren Fahrzeug auffuhr. Die Klägerin macht die ihr entstandenen Schäden mit der Klage geltend. Das Landgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Eine weitergehende Darstellung des Tatbestandes ist nach § 313a Abs. 1 S. 1 ZPO entbehrlich. Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache teilweise Erfolg. Der Klägerin steht, wenn auch nicht in voller Höhe, ein Anspruch auf Ersatz der Schäden, die sie im Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall vom 14.03.2018 in L. erlitten hat, gegenüber den Beklagten aus §§ 7 Abs. 1, 18, 17 Abs. 1 und 2 StVG, 115 VVG zu.
Zwischen den Parteien streitig ist die quotale Haftung für den bei der Klägerin eingetretenen Schaden. Insoweit kann sich der Senat der Wertung des Landgerichts, dass der von der Zeugin W. nicht gesetzte Blinker (nach "links") zu einem gänzlichen Zurücktreten einer Haftung der Beklagten führe, nicht anschließen. Eine solche Rechtsfolge würde nicht einmal eintreten, wenn die Zeugin - wie hier nicht - versehentlich nach "rechts" geblinkt und damit erkennbar angezeigt hätte, nicht der abknickenden Vorfahrtsstraße folgen zu wollen. Angesichts der überragenden Bedeutung des Vorfahrtsrechts sind nämlich strenge Anforderungen an die Voraussetzungen zu stellen, unter denen sich der Wartepflichtige auf ein durch Blinksignal angekündigtes Abbiegen verlassen darf. Den Wartepflichtigen, der in eine Vorfahrtsstraße einbiegen möchte, trifft eine gesteigerte Sorgfaltspflicht. Von ihm wird verlangt, dass er mit Misstrauen an die Vorfahrtstraße heranfährt und im Zweifel wartet. Diese gesteigerte Sorgfaltspflicht bringt es mit sich, dass er sich auf den Vertrauensgrundsatz nur in eingeschränkter Weise berufen kann. Mit einem verkehrswidrigen Verhalten des Vorfahrtsberechtigten - von groben Verkehrsverstößen abgesehen - muss er daher grundsätzlich rechnen.
Selbst wenn die Zeugin W. also versehentlich nach "rechts" geblinkt hätte, hätte sich der Beklagte zu 1. hierauf nicht "blind" verlassen dürfen, sondern das Hinzutreten weiterer Umstände abwarten müssen. Aufgrund der Besonderheiten des Einmündungsbereichs, bei dem man ungebremst in die untergeordnete Straße "abbiegen" konnte, war dabei mit einer deutlichen Geschwindigkeitsherabsenkung nicht zu rechnen, so dass erst der Beginn des Abbiegevorgangs (vgl. auch OLG Hamm, NJW-RR 2003, 264 ff.) - also das Überfahren der gestrichelte...