Leitsatz (amtlich)
1. Beabsichtigt ein Gericht in einem sogenannten Massenverfahren wegen des außerordentlichen Umfangs der vorterminlichen Schriftsätze oder der intensiven Verwendung von Textbausteinen einer Partei im Termin - abweichend von der im Zivilprozess seit Jahrzehnten etablierten Praxis - ausnahmsweise gemäß § 137 Abs. 3 Satz 1 ZPO die Bezugnahme auf die vorterminlichen Schriftsätze vollständig zu versagen und sie stattdessen allein auf die freie Rede zu verweisen, so hat das Gericht jedenfalls im Rahmen seiner materiellen Prozessleitung und Fürsorgepflicht dafür Sorge zu tragen, dass die Partei von diesem Vorgehen nicht gänzlich überrumpelt und hierdurch von einem hinreichenden Vortrag abgehalten wird.
2. Nach diesem Maßstab hat einem umfassenden Verweis auf die freie Rede nach § 137 Abs. 3 Satz 1 ZPO regelmäßig ein eindeutiger vorterminlicher Hinweis nach § 139 Abs. 1 ZPO vorauszugehen, mit dem diese Verfahrensweise angekündigt wird.
3. Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet es zudem, dass der Vorsitzende bei einem Verweis auf die freie Rede im Rahmen seiner Sitzungsleitung auf strukturierten Parteivortrag hinwirkt, also bei Verfahren des sogenannten Diesel-Abgasskandals jedenfalls darauf, dass zumindest zum Erwerb eines Fahrzeugs, zur Täuschung durch die Herstellerfirma, zum Zeitpunkt der Kenntnis des Käufers und zur Berücksichtigung der Fahrzeugnutzung vorgetragen wird.
Normenkette
ZPO §§ 137, 139, 148
Verfahrensgang
LG Koblenz (Aktenzeichen 4 O 396/20) |
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 4. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Koblenz vom 06.04.2022, Az. 4 O 396/20, wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf bis 10.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger nimmt die Beklagte wegen des Erwerbs eines Gebrauchtwagens vom Typ [...] in Anspruch, dessen Motor ([...] EU 5) mit verschiedenen unzulässigen Abschalteinrichtungen (Thermofenster, hot restart, Prüfstandserkennungen und Manipulation des OBD-Systems) versehen sei, auf Schadensersatz in Anspruch.
Das Landgericht hat dem Kläger in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass es eine Bezugnahme auf die vorbereitenden Schriftsätze im vorliegenden Fall wegen des unübersichtlichen Vortrags und der offensichtlichen Verwendung von Textbausteinen ohne Bezug zum konkreten Fall für unangemessen halte. Den daraufhin von der entsandten Terminsvertreterin in freier Rede gehaltenen und protokollierten Vortrag hielt das Landgericht sodann für unschlüssig, weshalb es die Klage abgewiesen hat. Nähere Angaben zum Streitgegenstand enthält das landgerichtliche Urteil nicht.
Der Kläger hat zunächst mit Schriftsatz vom 20.04.2022 (Bl. 397 f. eAkte LG) beantragt, den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils zumindest um das Kaufdatum, den Kaufpreis, den Kilometerstand und die maßgebliche Abgasnorm zu ergänzen. Dies hat das Landgericht mit Beschluss vom 21.04.2022 (Bl. 399 f. eAkte LG) abgelehnt, da ein solcher Vortrag nicht in freier Rede in der mündlichen Verhandlung gehalten worden sei.
Mit der Berufung rügt der Kläger insbesondere eine Verletzung rechtlichen Gehörs und wiederholt nahezu sein gesamtes erstinstanzliches Vorbringen.
Einer weitergehenden Darstellung tatsächlicher Feststellungen i.S.d. § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO bedarf es nicht, weil ein Rechtsmittel gegen das Urteil unzweifelhaft nicht zulässig ist, §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. §§ 543, 544 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
II. Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Zwar beruht das angefochtene Urteil auf einem wesentlichen Verfahrensfehler, da das Landgericht das schriftsätzliche Vorbringen des Klägers in erster Instanz in unzulässiger Weise vollständig unberücksichtigt gelassen hat (näher unter 1.). Der Senat hat jedoch - da die Voraussetzungen des § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO im Übrigen nicht vorliegen - gemäß § 538 Abs. 1 ZPO in der Sache selbst zu entscheiden und dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch nicht zu. Die tatsächlichen Voraussetzungen einer mangels vertraglicher Beziehungen allein denkbaren deliktischen Haftung der Beklagten hat er nicht schlüssig vorgetragen. Ein Anspruch aus §§ 826, 31 BGB lässt sich auf den Vortrag des Klägers zu etwaigen Abschalteinrichtungen nicht stützen (2.). Der Anspruch folgt auch nicht aus § 823 Abs. 2 BGB (3.). Von einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV oder einer Aussetzung des Verfahrens gemäß/analog § 148 ZPO sieht der Senat ab (4.). Der Kläger dringt schließlich aus den für den Hauptanspruch geltenden Gründen auch mit seinen Nebenforderungen nicht durch (5.).
1. Die Verfahrensweise des Landgerichts, mit der es der für den Kläger und seine Prozessbevollmächtigten im Termin zur mündlichen Verhandlung erschienenen Terminsvertreterin die Bezugnahme auf die vorterminlichen Schriftsätze gemäß § 137 Abs. 3 Satz 1 ZPO verwehrte, stellt einen wesentliche...