Leitsatz (amtlich)
1. Zur Nothilfeüberschreitung beim unmittelbar ausgeführten Faustschlag auf den bebrillten Kopf des auf einem Sofa sitzenden Klägers, der seinerseits den kleinen Finger der Ehefrau des Beklagten festhält und umdreht.
2. Bei der Putativnotwehr kommt eine Haftung nach den Grundsätzen der un-erlaubten Handlung in Betracht, wenn die irrige Annahme der Notwehrlage wenigstens den Vorwurf der Fahrlässigkeit rechtfertigt.
Normenkette
BGB §§ 227, 823 Abs. 1-2; StGB § 229
Verfahrensgang
LG Mainz (Urteil vom 04.09.2008; Aktenzeichen 3 O 85/07) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten zu 1. wird das Urteil der Einzelrichterin der 3. Zivilkammer des LG Mainz vom 4.9.2008 abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte zu 2. wird verurteilt,
a) an den Kläger 27.000 EUR nebst 5 % Zinsen hieraus seit dem 3.11.2007 zu zahlen;
b) den Kläger von der Zahlung der vollen außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 1.196,43 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gegenüber Rechtsanwalt Joachim Thielen in Mainz freizustellen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte zu 2. verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit diese ursächlich auf den rechtswidrigen Übergriff vom 6.11.2006 gegen 18.30 Uhr in der N.-Straße in M. zurückzuführen sind und Schadensersatzansprüche nicht kraft Gesetzes auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Berufung des Beklagten zu 2. wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits im ersten und zweiten Rechtszug werden wie folgt verteilt:
Die Gerichtskosten tragen der Kläger und der Beklagte zu 2. zu jeweils 1/2. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1. trägt der Kläger in vollem Umfang, diejenigen des Klägers trägt der Beklagte zu 1. zu 1/2. Im Übrigen tragen die Parteien ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung i.H.v. 115 v.H. des auf Grund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zu 1. vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 115 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Beklagte zu 2. darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung i.H.v. 115 v.H. des auf Grund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 115 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Der Kläger verlangt von den beklagten Eheleuten als Gesamtschuldnern Schadensersatz wegen eines tätlichen Angriffs am 6.11.2006 in M.
Es wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).
Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wurde hinsichtlich der Beklagten zu 1. mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt (Bl. 155 d. Beiakte Staatsanwaltschaft Mainz - 3053 Js 014593/07); gegen den Beklagten zu 2. wurde Anklage wegen schwerer Körperverletzung erhoben (Bl. 157 ff. d. Beiakte). Mit Urteil des AG - Schöffengerichts - Mainz vom 19.11.2009 (Bl. 690 ff. d. Beiakte) wurde der Beklagte zu 2. wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt; im Berufungsverfahren wurde der Beklagte zu 2. rechtskräftig freigesprochen (Urteil des LG Mainz vom 10.11.2010; Bl. 921 ff. d. Beiakte).
Das LG hat nach Beweisaufnahme mit Urteil vom 4.9.2009 (Bl. 165 ff. GA) der vorliegenden Klage im Wesentlichen stattgegeben; hiergegen richten sich die Berufungen der beiden Beklagten.
Die Beklagten rügen eine falsche Beweiswürdigung und als deren Folge die rechtsfehlerhafte Verneinung des Rechtsfertigungsgrundes der Notwehr respektive Nothilfe. Unmittelbar nach der erstinstanzlichen Beweisaufnahme hätten sie, die Beklagten, davon Kenntnis erlangt, dass die Zeugen L. und P. unvollständig und unrichtig zur Sache bekundet hätten (s. auch den nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 15.8.2008; Bl. 167a.F. GA); insofern sei die erneute Vernehmung aller Zeugen geboten (gewesen). Es könne nun bewiesen werden, dass der Angriff zunächst vom Kläger ausgegangen sei, da dieser den kleinen Finger der Beklagten zu 1. "schmerzhaft verdreht" habe. Zur Abwehr sei alsdann der - ziellos in Richtung des Klägers abgegebene - Schlag des Beklagten angemessen und gerechtfertigt gewesen. Es habe mithin eine Nothilfehandlung vorgelegen; jedenfalls aber müsse sich der Kläger die Mitverursachung seines Unfalls zurechnen lassen.
Die Verurteilung - auch - der Beklagten zu 1. sei zu Unrecht erfolgt. Sie habe keinesfalls die nachfolgend aufgetretene Schnittverletzung infolge des zerbrochenen Brillenglases zu verantworten; sie selbst habe nämlich - unstreitig - gerade nicht auf das Gesicht bzw. die Brille des Klägers geschlagen, sondern lediglich von unten gegen dessen Kopf.
Die vom LG ausgesprochene Schmerzensgeldhöhe sei übersetzt; namentlich müssten die Verteidigungsabsich...