Entscheidungsstichwort (Thema)
Zumutbarkeit. Geräuscheinwirkung. Behinderte. Diskriminierungsverbot
Leitsatz (amtlich)
1. Maßstab für die Duldungspflicht nach § 906 Abs. 1 BGB ist das Empfinden des, verständigen” Durchschnittsmenschen, was bedeutet, daß nicht allein auf das Maß der objektiven Beeinträchtigung abzustellen ist, sondern auch wertende Momente in die Beurteilung einzubeziehen sind (im Anschluß an BGHZ 120, 239, 255; 121, 248, 255). Insbesondere sind hier die spezifischen Belange der Behinderten zu berücksichtigen; das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG entfaltet insoweit Ausstrahlungswirkung.
2. Im Lichte des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG muß von einem verständigen Durchschnittsmenschen im nachbarschaftlichen Zusammenleben mit behinderten Menschen eine erhöhte Toleranzbereitschaft eingefordert werden. Dies bedeutet aber nicht, daß den Interessen der Behinderten schlechthin der Vorrang vor den berechtigten Belangen ihrer Nachbarn gebührt. Das Toleranzgebot endet, wo nach umfassender Abwägung zwischen Art und Ausmaß der Beeinträchtigung einerseits und den hinter der Geräuschbelästigung stehenden privaten und öffentlichen Belangen andererseits dem Nachbarn die Belästigung billigerweise nicht mehr zugemutet werden kann.
3. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit von Geräuscheinwirkungen kommt es nicht allein auf die Dauer und die Lautstärke sondern auch auf die Art der Geräusche an. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß Lautäußerungen geistig schwer behinderter Menschen auch von solchen Bürgern als sehr belastend empfunden werden können, die sich gegenüber Behinderten von der gebotenen Toleranz leiten lassen. 4. Tonbandaufzeichnungen über Lautäußerungen ausschließlich nichtverbaler Art, die jedenfalls für Außenstehende keinen Informationsgehalt haben und keiner bestimmten Person zugeordnet werden können, sind ein zulässiges Beweismittel.
Normenkette
BGB § 906; GG Art. 3 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Aachen (Urteil vom 24.04.1996; Aktenzeichen 4 O 383/93) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 24. April 1996 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Aachen – 4 O 383/93 – teilweise abgeändert und unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung insgesamt wie folgt neu gefaßt: Der Beklagte wird verurteilt, in der Jahreszeit zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, daß von den auf seinem Grundstück untergebrachten geistig behinderten Personen Lärmeinwirkungen wie Schreien, Stöhnen, Kreischen und sonstige unartikulierte Laute zu folgenden Tageszeiten auf das Grundstück des Klägers dringen:
- an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen ab 12:30 Uhr;
- mittwochs und samstags ab 15:30 Uhr;
- an den übrigen Werktagen ab 18:30 Uhr. Im übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen tragen der Kläger zu 2/3, der Beklagte zu 1/3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die Berufung ist zulässig, hat in der Sache aber nur teilweise Erfolg.
I.
Die Klage ist mit den in der Berufungsinstanz gestellten Anträgen zulässig.
Seinen erstinstanzlichen Hauptantrag, mit dem er vom Beklagten noch die Schließung des in der … Str. unterhaltenen heilpädagogischen Heims verlangt hat, verfolgt der Kläger in der Berufungsinstanz nicht mehr weiter. Ob die nunmehr gestellten Anträge, die auf Unterlassung der von dem Grundstück ausgehenden Störungen beziehungsweise – hilfsweise – Zahlung einer Entschädigung gerichtet sind, gegenüber den erstinstanzlichen Anträgen eine Klageänderung darstellen, kann dahinstehen. Auch wenn es sich um eine Klageänderung handelt, ist sie jedenfalls deshalb zulässig, weil sie sachdienlich ist (§ 263 ZPO).
II.
Hinsichtlich der Lärmeinwirkungen steht dem Kläger grundsätzlich ein Unterlassungsanspruch gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB (in Verbindung mit § 906 BGB) zu.
Die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebende Bestimmung enthält § 906 Abs. 1 BGB. Danach hat der Eigentümer eines Grundstücks bestimmte Einwirkungen, u.a. Geräuschimmissionen, nur zu dulden, soweit die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt wird. Der Beklagte bestreitet nicht, daß die Heimbewohner Laute von sich geben, die auf dem benachbarten Grundstück des Klägers hörbar sind. Er meint nur, die Beeinträchtigung, die der Kläger dadurch erfahre, sei nicht wesentlich. In dieser Einschätzung kann dem Beklagten nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht gefolgt werden.
1. Bei der Beurteilung der rechtlichen Kriterien, nach denen sich die Wesentlichkeit einer Beeinträchtigung bemißt, folgt der Senat der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts.
Als Maßstab für die Duldungspflicht nach § 906 Abs. 1 BGB diente früher das Empfinden des sog. „normalen” Durchschnittsmenschen (BGHZ 70, 102, 110). Als unwesentlich galt eine Beeinträchtigung nur dann, wenn sie von einem durchschnittlichen Grundstücksbenutzer kaum noch empfunden wur...