Verfahrensgang

LG Aachen (Aktenzeichen 4 O 383/93)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 24. April 1996 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Aachen – 4 O 383/93 – teilweise abgeändert und unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung insgesamt wie folgt neu gefaßt:

Der Beklagte wird verurteilt, in der Jahreszeit zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, daß von den auf seinem Grundstück untergebrachten geistig behinderten Personen Lärmeinwirkungen wie Schreien, Stöhnen, Kreischen und sonstige unartikulierte Laute zu folgenden Tageszeiten auf das Grundstück des Klägers dringen:

  1. an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen ab 12:30 Uhr;
  2. mittwochs und samstags ab 15:30 Uhr;
  3. an den übrigen Werktagen ab 18:30 Uhr.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen tragen der Kläger zu 2/3, der Beklagte zu 1/3.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

Die Berufung ist zulässig, hat in der Sache aber nur teilweise Erfolg.

I.

Die Klage ist mit den in der Berufungsinstanz gestellten Anträgen zulässig.

Seinen erstinstanzlichen Hauptantrag, mit dem er vom Beklagten noch die Schließung des in der … Str. unterhaltenen heilpädagogischen Heims verlangt hat, verfolgt der Kläger in der Berufungsinstanz nicht mehr weiter. Ob die nunmehr gestellten Anträge, die auf Unterlassung der von dem Grundstück ausgehenden Störungen beziehungsweise – hilfsweise – Zahlung einer Entschädigung gerichtet sind, gegenüber den erstinstanzlichen Anträgen eine Klageänderung darstellen, kann dahinstehen. Auch wenn es sich um eine Klageänderung handelt, ist sie jedenfalls deshalb zulässig, weil sie sachdienlich ist (§ 263 ZPO)

II.

Hinsichtlich der Lärmeinwirkungen steht dem Kläger grundsätzlich ein Unterlassungsanspruch gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB (in Verbindung mit § 906 BGB) zu.

Die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebende Bestimmung enthält § 906 Abs. 1 BGB. Danach hat der Eigentümer eines Grundstücks bestimmte Einwirkungen, u. a. Geräuschimmissionen, nur zu dulden, soweit die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt wird. Der Beklagte bestreitet nicht, daß die Heimbewohner Laute von sich geben, die auf dem benachbarten Grundstück des Klägers hörbar sind. Er meint nur, die Beeinträchtigung, die der Kläger dadurch erfahre, sei nicht wesentlich. In dieser Einschätzung kann dem Beklagten nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht gefolgt werden.

1. Bei der Beurteilung der rechtlichen Kriterien, nach denen sich die Wesentlichkeit einer Beeinträchtigung bemißt, folgt der Senat der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts.

Als Maßstab für die Duldungspflicht nach § 906 Abs. 1 BGB diente früher das Empfinden des sog. „normalen” Durchschnittsmenschen (BGHZ 70, 102, 110). Als unwesentlich galt eine Beeinträchtigung nur dann, wenn sie von einem durchschnittlichen Grundstücksbenutzer kaum noch empfunden wurde (BGH NJW 1982, 440, 441; OLG Stuttgart, NJW-RR 1986, 1339, 1340). Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dagegen das Empfinden des „verständigen” Durchschnittsmenschen maßgebend, was insbesondere bedeutet, daß im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung nicht mehr allein auf das Maß der objektiven Beeinträchtigung abzustellen ist, sondern daß auch wertende Momente wie beispielsweise Belange des Umweltschutzes oder das öffentliche Interesse an einer kinderfreundlichen Umgebung in die Beurteilung einzubeziehen sind (BGHZ 120, 239, 255; 121, 248, 255).

Die neuere Rechtsentwicklung ist ferner dadurch gekennzeichnet, daß die Rechtsprechung das privatrechtliche Kriterium der Wesentlichkeit im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB gleichsetzt mit dem öffentlich-rechtlichen Kriterium der Erheblichkeit im Sinne des § 3 Abs. 1 BImSchG, um zu einer Vereinheitlichung zivilrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Beurteilungsmaßstäbe zu kommen (BGHZ 111, 63, 68; 120, 239, 255; 121, 248, 254; BVerwG NJW 1989, 1291). Der Senat berücksichtigt daher auch die zu § 3 Abs. 1 BImSchG ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach im Sinne einer „Sozialadäquanz” und „Akzeptanz” auch die allgemeine Einschätzung der Bevölkerung in die Abwägung einzubeziehen ist (BVerwGE 88, 143, 149).

Grundsätzlich ist damit eine Rechtsentwicklung festzustellen, die es ermöglicht und nahelegt, bei der Beurteilung der Wesentlichkeit im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB auch die spezifischen Belange der Behinderten zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang ist der mit Gesetz vom 27. Oktober 1994 in das Grundgesetz eingefügte Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 GG („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden”) zu beachten, der nicht nur dem Staat und seinen Organen ein Diskriminierungsverbot auferlegt, sondern kraft seiner „Ausstrahlungswirkung” auf das Privatrecht auch bei der Auslegung und Anwendung privatrechtlicher Normen nicht unbeachtet bleiben darf (vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 3 Rdn. 83). Im...

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