Entscheidungsstichwort (Thema)
Verkennen der Anzeichen eines Schlaganfalls bei Patient mit multipler Sklerose
Leitsatz (amtlich)
1. Die Fehldeutung möglicher Anzeichen einer Thrombose im Gehirn als akuter Schub bei bekannter Multipler Sklerose stellt sich als bloßer Diagnoseirrtum dar, der keine Haftung des Arztes begründet.
2. Zur Frage einer notfallmäßig durchzuführenden Magnetresonanztomografie zum Ausschluss transitorisch ischämischer Attacken bei gleichzeitiger klarer Multiple-Sklerose-Symptomatik (hier verneint).
Normenkette
BGB §§ 249, 280, 611, 823
Verfahrensgang
LG Bonn (Urteil vom 02.04.2012; Aktenzeichen 9 O 375/10) |
BGH (Aktenzeichen VI ZR 378/14) |
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das am 2.4.2012 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des LG Bonn - 9 O 375/10 - wird zurückgewiesen.
II. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 2.4.2012 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des LG Bonn - 9 O 375/10 - teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Klage wird abgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen werden der Klägern auferlegt.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages leisten.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt die Beklagten mit dem Vorwurf ärztlicher Diagnose-, Befunderhebungs- und Behandlungsfehler während des stationären Aufenthaltes im Hause der Beklagten zu 1. in der Zeit vom 31.10. bis zum 3.11.2008 auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden in Anspruch.
Bei der am xx. xx 1971 geborenen Klägerin wurde im Jahre 1991 Multiple Sklerose diagnostiziert, die im Jahre 1996 zu einem zweiten Schub führte. Am 18.10.2008 gebar die Klägerin ihr zweites Kind. Die Entbindung erfolgte durch Kaiserschnitt. Ab dem 29.10.2008 stellte sich bei ihr eine anhaltende Sehstörung und zusätzlich eine Gangunsicherheit ein, die sich in den Folgetagen verschlimmerte. Daraufhin suchte die Klägerin den Neurologen, Herrn Dr. N, auf, der sie mit der Diagnose "akuter Schub bei MS" an das N2-Hospital in F, dessen Trägerin die Beklagte zu 1. ist, überwies. Dort wurde sie am 31.10.2008 von den Beklagten zu 2. und 3. klinisch untersucht. Im Rahmen der Untersuchung zeigten sich eine mäßige Dysarthrie, Doppelbilder beim Blick nach oben sowie motorische Einschränkungen. Die Beklagten zu 2. und 3. stellten die Diagnose: "erneuter Schub der Multiplen Sklerose" und ordneten eine hochdosierte intravenöse Steroidtherapie an. Der Zustand der Klägerin verbesserte sich in den Folgetagen, so dass sie am 3.11.2008 aus der stationären Behandlung entlassen wurde. Am 4.11.2008 wurde sie erneut in das Krankenhaus der Beklagten zu 1. aufgenommen. Sie war komatös mit beidseits lichtstarren Pupillen. Im CT des Schädels zeigte sich eine Thrombose der Arteria basilaris. Daraufhin wurde eine selektive Thrombolyse durchgeführt. Anschließend wurde die Klägerin auf der Intensivstation, ab dem 5.11.2008 in der neurologischen Abteilung und ab dem 9.11.2008 auf der Normalstation im Krankenhaus der Beklagten zu 1. weiterbehandelt. Am 19.11.2008 wurde die Klägerin entlassen, wegen Verschlechterung ihres Zustandes aber am 20.11.2008 wieder aufgenommen. Therapeutisch wurde eine Antikoagulaton mit Marcumar eingeleitet. Ab dem 2.12.2008 erhielt sie im Rahmen einer Rehabilitationsbehandlung in der F2klinik in N3 Sprach-, Physio- und Ergotherapie. In der Folgezeit besserte sich ihr Zustand. Am 13.1.2010 wurde bei der Klägerin eine Schieloperation des linken Auges und vom 23.2.2010 bis zum 16.3.2010 eine weitere Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt.
Die Klägerin hat behauptet, dass die Beklagten zu 2. und 3. die Diagnose "akuter Schub der Multiplen Sklerose" vorschnell gestellt hätten. Die erforderliche differenzialdiagnostische Abklärung sei nicht erfolgt. Bis Oktober 2008 sei sie durch die MS-Erkrankung in keiner Weise in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt gewesen. In den ersten Monaten nach der Entlassung habe sie nur mithilfe eines Rollators gehen können. Inzwischen könne sie zwar frei gehen, es bestehe aber weiterhin Sturzgefahr. Sie habe weiterhin eine Seh- und Sprachstörung. Darüber hinaus leide sie an Depressionen. Während der zahlreichen Behandlungen seien für sie Fahrtkosten und Kosten für Zuzahlungen i.H.v. insgesamt 2.663,05 EUR entstanden. Wegen der bestehenden Beeinträchtigungen sei sie im Zeitraum bis November 2009 auf Hilfe und Betreuung von mindestens drei Stunden täglich angewiesen gewesen. Inzwischen sei dafür eine Stunde täglich ausreichend. Nach wie vor könne sie sich nur schlecht konzentrieren. Sie sei nicht mehr in der Lage, ihre frühere Erwerbstätigkeit in dem Betrieb ihres Ehemannes auszuüben. Auch in ihrer Fähigkeit, sich um ihre Kinder und um ihren Haushalt zu kümmern, sei sie stark eingeschränkt und in erheblichem Umfange auf ...