Leitsatz (amtlich)
1. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 8. November 2012, StraFO 2012, 490ff., wonach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht mit Art. 6 Abs. 1 und 3 MRK vereinbar sei, verkennt das Regelungsgefüge dieser Vorschrift und die Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht.
2. Selbst bei einer unterstellten Konventionswidrigkeit ist die Vorschrift angesichts ihres eindeutigen Wortlautes von deutschen Gerichten aufgrund ihrer Bindung an die geltenden Gesetze anzuwenden und eine auf die Konventionswidrigkeit der Vorschrift gestützte Revision offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Normenkette
EMRK Art. 6 Abs. 1, 3; StPO § 329 Abs. 1 S. 1, § 349 Abs. 2
Gründe
1.
Der Angeklagte wurde mit Urteil des Amtsgerichts vom 17.08.2011 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Auf seine rechtzeitig eingelegte Berufung gegen dieses Urteil bestimmte das Landgericht Termin zur Verhandlung über die Berufung auf den 09.08.2012. Zu diesem Termin erschien der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne Angabe von Gründen nicht, sondern lediglich seine (ebenfalls geladene) Verteidigerin. Diese legte eine vom Angeklagten unterzeichnete Vollmacht zur Vertretung und Verteidigung vor und erklärte, zur Verteidigung bereit zu sein. Das Landgericht Landshut verwarf die Berufung durch das angefochtene Urteil nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO und führte aus, dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift unzweifelhaft vorliegen würden und eine konventionsfreundliche Auslegung im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR entgegen dem Wortlaut nicht möglich sei.
2.
Hiergegen richtet sich die rechtzeitig eingelegte und begründete Revision des Angeklagten. Er macht mit der allein erhobenen Verfahrensrüge geltend, das Urteil verstoße gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c) MRK. Aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sei § 329 Abs. 1 S. 1 StPO dahingehend auszulegen, dass die Gerichte im Fall des Nichterscheinens eines verteidigten Angeklagten dem Verteidiger allgemein die Möglichkeit geben müssten, den Angeklagten in seiner Abwesenheit zu verteidigen. Er hat hierzu insbesondere auf die Entscheidung des EGMR vom 08.11.2012 hingewiesen, in dem festgestellt worden sei, dass die Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO in Fällen wie dem vorliegenden konventionswidrig sei.
3.
Die Generalstaatsanwaltschaft ist dem Rechtsmittel entgegen getreten und hat ausgeführt, dass weder Art. 6 MRK noch die Rechtsprechung des EGMR Veranlassung geben, § 329 Abs. 1 S. 1 StPO einschränkend auszulegen. Sie hat hierzu auch auf die Entscheidungen der Oberlandesgerichte Düsseldorf (vom 27.02.2012, III-2 RVs 11/12, zitiert nach [...]) und Hamm (vom 14.06.2012, III-1 RVs 41/12, zitiert nach [...]) verwiesen, die diese Frage ebenso entschieden haben.
Die Revision blieb ohne Erfolg.
Aus den Gründen:
Die Nachprüfung des sorgfältig begründeten Urteils aufgrund des Revisionsvorbringens hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
1.
Die in zulässiger Weise allein mit der Verfahrensrüge der konventionswidrigen Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO begründete Revision bleibt ohne Erfolg. Zur Begründung wird zunächst auf die umfangreichen Ausführungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 21.11.2012 Bezug genommen.
a)
Der Senat hat bereits ernsthafte Zweifel, ob die Handhabung des § 329 Abs. 1 StPO im vorliegenden Fall einen Verstoß gegen Art. 6 MRK darstellt.
aa)
Zwar hält der EGMR in seiner neuesten Rechtsprechung (vgl. die vom Angeklagten angeführte Entscheidung vom 08.11.2012, Application no. 30804/07, Neziraj v. Germany, dort insbesondere Rdn. 55ff. - auszugsweise veröffentlicht in StraFo 2012, 490ff.) tatsächlich die Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO im Fall eines verteidigten Angeklagten für nicht mit Art. 6 Abs. 1, 3 MRK vereinbar. Begründet wird das mit dem Recht auf Verteidigung, welches zu den tragenden Grundlagen eines fairen Verfahrens gehöre und welches der Angeklagte auch nicht allein dadurch verliere, dass er zur Verhandlung nicht erscheine.
bb)
Wie allerdings bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 27.12.2006, 2 BvR 535/04 (zitiert nach [...]) ausgeführt hat, verkennt das alleinige Abstellen auf das Recht des Angeklagten zur effektiven Verteidigung das Regelungsgefüge des § 329 StPO. Auf die entsprechenden Ausführungen des BVerfG (a.a.O. Rdn. 9ff.) wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Die durch § 329 Abs. 1 S. 1 StPO festgelegte Pflicht des Angeklagten zur persönlichen Anwesenheit (auf welche nebst den Folgen des Ausbleibens bereits in der Ladung hingewiesen wird) dient nämlich auch der Wahrheitsfindung und ist somit eine Ausprägung der Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit, über die der Angeklagte nicht disponieren kann, wie bereits § 338 Nr. 5 StPO zeigt. Hiermit setzt sich die Entscheidung des EGMR nicht auseinander.
Darüber hinaus schein...