Leitsatz (amtlich)
Die Möglichkeit der Verwerfung der Berufung ohne Sachverhandlung beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung nicht einfindet. Dabei ist eine enge Auslegung der Vorschrift des § 329 Abs. 1 StPO geboten, um zu verhindern, dass der grundgesetzlich gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verkürzt wird. Teilt der Angeklagte mit, er werde verspätet erscheinen, weil er den Zug verpasst habe, kann die Verwerfung der Berufung ohne weitere Feststellungen nicht allein mit dem Hinweis auf die enge zeitliche Folgeterminierung am Verhandlungstag begründet werden.
Tatbestand
Der Angeklagte war zur Hauptverhandlung um 13.00 Uhr ordnungsgemäß unter Hinweis auf die Folgen unentschuldigten Fernbleibens geladen worden. Bei Beginn der Hauptverhandlung war der Angeklagte nicht erschienen. Der Verteidiger trug vor, der nicht am Gerichtsort, sondern in G. wohnende Angeklagte habe in seiner Kanzlei angerufen und mitgeteilt, dass er den Zug versäumt habe und jedenfalls in der nächsten Stunde nicht kommen könne. Weitere Feststellungen im Freibeweisverfahren hat das Berufungsgericht nicht getroffen und um 13.20 Uhr die Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache verworfen.
Die Revision hatte mit der Verfahrensrüge Erfolg.
Entscheidungsgründe
Nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO hat das Gericht die Berufung eines ordnungsgemäß geladenen Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen, wenn dieser bei Beginn der Berufungshauptverhandlung nicht erschienen und sein Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Im Revisionsverfahren sind die für die Verwerfung maßgebenden Gründe zu überprüfen (BGHSt 17, 391/396 f.). Dabei ist das Revisionsgericht an die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils gebunden; es kann diese Feststellungen nicht im Wege des Freibeweises nachprüfen oder gar ergänzen (BGHSt 28, 383/387; KK-Ruß StPO 5. Aufl., § 329 Rn. 14 m.w.N.).
1.
Voraussetzung für die Verwerfung der Berufung ist zunächst, dass der ausgebliebene Angeklagte zur Hauptverhandlung ordnungsgemäß geladen worden ist (BGHSt 24, 143/149 f.). Zu einer ordnungsgemäßen Ladung gehört auch der Hinweis auf die Folgen des Ausbleibens (§ 323 Abs. 1 S. 1 StPO). Dazu gehört die Belehrung, dass das Rechtsmittel bei unentschuldigtem Ausbleiben verworfen wird. Der Hinweis auf die Belehrung in einer früheren Verhandlung genügt nicht (OLG Koblenz NJW 1981, 2074). Fehlt der Hinweis in der Ladung, darf die Berufung nicht nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO verworfen werden (BayObLGSt 1975, 30; 1978, 84).
2.
Nach den nicht beanstandeten Feststellungen des Berufungsurteils ist der Angeklagte zu dem Berufungshauptverhandlungstermin ordnungsgemäß und unter Hinweis auf die Folgen unentschuldigten Fernbleibens geladen worden. Zum Berufungshauptverhandlungstermin um 13.00 Uhr ist der Angeklagte nicht erschienen. Er war auch nicht von der Pflicht zum Erscheinen entbunden (§ 233 StPO).
3.
Jedoch hat das Berufungsgericht den Begriff der "genügenden Entschuldigung" verkannt. Bei der Entscheidung, ob das Ausbleiben des Angeklagten genügend entschuldigt ist, steht dem Berufungsgericht kein Ermessensspielraum zu (vgl. BGHSt 33, 394/398; BayObLG JR 2000, 80/81); es handelt sich um die Entscheidung einer Rechtsfrage, deren maßgebliche Erwägungen vom Revisionsgericht nachgeprüft werden können.
Die Möglichkeit der Verwerfung der Berufung ohne Sachverhandlung beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Beschwerdeführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht (BGHSt 17, 188/189; BayObLGSt 1988, 103/104 f.; OLG Zweibrücken NStZ-RR 2000, 111/112). Dabei ist eine enge Auslegung der Vorschrift des § 329 Abs. 1 StPO geboten, um zu verhindern, dass der grundgesetzlich gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verkürzt wird (BayObLGSt a.a.O.). Eine genügende Entschuldigung liegt vor, wenn nach den konkreten Umständen des Einzelfalles dem Angeklagten wegen seines Ausbleibens billigerweise kein Vorwurf zu machen ist (BayObLG JR 2000, 80/81). Zweifel an einer ausreichenden Entschuldigung dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen (BayObLG NStZ-RR 2003, 87/88). Maßgeblich ist hierbei nicht, ob der nicht erschienene Angeklagte sich genügend entschuldigt hat, sondern ob sich aus den Umständen, die dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt und im Wege des Freibeweises feststellbar waren, eine ausreichende Entschuldigung ergibt. Bei der Prüfung sind sämtliche, dem Berufungsgericht bekannten Umstände einzustellen. Dabei kann auch die Bedeutung der Strafsache eine Rolle spielen.
Die Versäumung eines Zuges kann, wenn keine weiteren Umstände ermittelt sind, eine hinreichende Entschuldigung rechtfertigen (...). Dies gilt umso mehr, wenn sich aus der für das Fernbleiben vorgetragenen...