Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftungsverteilung bei Verkehrsunfall: Kollision zwischen einem abbiegenden Traktor und einem überholenden Pkw
Leitsatz (amtlich)
Bei einem unfallursächlichen Verstoß des Fahrers eines Traktors gegen die ihm nach § 9 I S. 4 StVO obliegende Pflicht, vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten und einem grob verkehrswidrigen Verhalten des Führers eines Pkw, der den Traktor bei unklarer Verkehrslage (§ 5 III Nr. 1 StVO) überholen will sowie dadurch gegen § 3 III StVO verstößt, dass er innerorts die geltende Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um mehr als 35 km/h überschreitet, ist eine Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Pkw-Fahrers angemessen.(Rn. 10) (Rn. 11) (Rn. 12)
Normenkette
StVG § 17 Abs. 1, § 18 Abs. 3; StVO § 3 Abs. 3, § 5 Abs. 3 Nr. 1, § 9 Abs. 1 S. 4
Verfahrensgang
LG München II (Urteil vom 23.08.2021; Aktenzeichen 1 O 4405/18) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten vom 08.09.2021 wird das Endurteil des LG München II vom 23.08.2021 (Az. 1 O 4405/18) abgeändert und wie folgt neu gefasst:
I. Die Beklagten werden verurteilt, an den Kläger samtverbindlich einen Betrag in Höhe von 3.270,85 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.07.2018 sowie weitere 236,70 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.07.2018 zu zahlen.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz trägt der Kläger 59 % und die Beklagten samtverbindlich 41 %. Die Kosten der ehemaligen Beklagten zu 1), der A. Autovermietung GmbH & Co. KG, trägt der Kläger. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
4. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
6. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 3.179,18 EUR festgesetzt.
Gründe
A. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).
B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache überwiegend Erfolg.
I. Das Landgericht ist rechtsfehlerhaft von der vollen Haftung der Beklagten ausgegangen und hat folglich zu Unrecht die Ansprüche des Klägers vollumfänglich zugesprochen. Angemessen und sachgerecht ist stattdessen eine Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Beklagten.
1. Dem Erstgericht ist kein Fehler bei der Tatsachenfeststellung unterlaufen.
Der Senat ist nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, weil keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden.
Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche, vgl. BGH VersR 2005, 945; Senat, Urt. v. 9.10.2009 - 10 U 2965/09 [juris] und v. 21.6.2013 - 10 U 1206/13). Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]; NJW - 2 - 2006, 152 [153]; Senat, a. a. O.); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH, a. a. O.; Senat, a. a. O.).
Ein solcher konkreter Anhaltspunkt für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ist von der Berufung nicht aufgezeigt worden. Unabhängig von der Frage, ob das Bestreiten der Beklagten bzgl. des bei dem Klägerfahrzeug gesetzten Blinkers unbeachtlich ist (vgl. S. 5 des Ersturteils), hat sich das Erstgericht rechtsfehlerfrei davon überzeugt, dass der Blinker gesetzt war (vgl. S. 5 f. des Ersturteils, vgl. Zeuge Sch., S. 3 der Sitzungsniederschrift vom 24.10.2019, Bl. 81 d.A., sowie Zeuge F., S. 7 f. der Sitzungsniederschrift vom 24.10.2019, Bl. 85 f. d.A.). Das Erstgericht hat dabei zutreffend das Beweismaß des § 286 I 1 ZPO zugrunde gelegt und die insoweit geltenden Regeln beachtet.
2. Das Erstgericht hat jedoch die sachlich-rechtlichen Fragen unzutreffend beantwortet und rechtsfehlerhaft eine Mithaftung des Klägers aufgrund des Verstoßes gegen die doppelte Rückschaupflicht durch den Fahrer des Klägerfahrzeugs gemäß § 9 I 4 StVO außer Acht gelassen.
a) Da die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind und die Ersatzpflicht weder wegen Vorliegens höherer Gewalt nach § 7 II StVG ausgeschlossen ist, noch ein unabwendbares Ereignis für einen der beiden Fahrzeugführer nach § 17 III StVG vorliegt, hängt die Schadensersatzpflicht nach §§ 17 I, 18 III StVG im Verhältnis des Klägers zu dem Beklagten zu 1) von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit ...