Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerb eines Dieselfahrzeugs mit dem Motortyp EA 288: Schadensersatz bei Behauptung einer unzulässigen Abschalteinrichtung; Sittenwidrigkeit bei Ausstattung eines Fahrzeugtyps mit einem Thermofenster

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Verhalten der für einen Kraftfahrzeughersteller handelnden Personen ist nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie einen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems ("Thermofenster") ausgestattet und in den Verkehr gebracht haben. Die Annahme objektiver Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (BGH, 19. Januar 2021, VI ZR 433/19, BGH, 9. März 2021, VI ZR 889/20). (Rn. 18)

2. Der Umstand, dass ein Fahrzeugtyp nicht von einer Rückrufaktion des Kraftfahrt-Bundesamts wegen unzulässiger Abschalteinrichtungen betroffen ist, stellt ein ganz erhebliches Indiz dafür dar, dass die von einem Fahrzeugkäufer behaupteten unzulässigen Abschalteinrichtungen nicht vorliegen. (Rn. 31)

 

Normenkette

BGB §§ 31, 826

 

Verfahrensgang

LG Gießen (Urteil vom 21.12.2020; Aktenzeichen 2 O 384/20)

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts Memmingen vom 10.08.2020, Az.: 26 O 949/19, wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

III. Dieses Urteil und das oben unter Ziffer I. bezeichnete Urteil des Landgerichts Memmingen sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung wegen der Kosten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

IV. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger macht gegen die Beklagte Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Fahrzeugs mit Dieselmotor geltend.

1. Der Kläger erwarb am 14.07.2017 bei der ... einen Neuwagen VW T6 Multivan 2.0 TDI BMT 4Motion zum Kaufpreis von 65.396 EUR. In dem Fahrzeug ist ein von der Beklagten hergestellter Motor der Baureihe EA 288 mit SCR-Katalysator (Schadstoffklasse Euro 6) verbaut. Die Leistung des Motors wurde durch die Firma ABT von 150 kw auf 173 kw gesteigert. Das Fahrzeug hatte am 06.07.2020 eine Laufleistung von 50.717 km.

Für das Fahrzeug erging ein Rückruf des Kraftfahrt-Bundesamts im Zusammenhang mit Konformitätsabweichungen in Bezug auf das Emissionsverhalten bei der Regeneration des Dieselpartikelfilters (KBA-Referenznr. ...). Nach den Feststellungen im Urteil des Landgerichts bezog sich dieser Rückruf nicht auf das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung. Dem Rückruf wurde durch eine Software-Maßnahme Rechnung getragen, die eine Erhöhung des Ad-Blue-Verbrauchs zur Folge hat. Die Beklagte hat ein Freigabeschreiben des Kraftfahrt-Bundesamts vom 19.11.2018 vorgelegt (Beklagtenanlagen), wonach die Emissions-Grenzwerte beim VW T6 2,0 l Diesel Euro 6 nach der Durchführung der Maßnahme eingehalten werden und unzulässige Abschalteinrichtungen nicht festgestellt worden seien.

Der Kläger hat im Verfahren vor dem Landgericht Memmingen geltend gemacht, das Fahrzeug sei mit unzulässigen Abschalteinrichtungen versehen. Es sei daher mit einem Mangel behaftet, weshalb dem Kläger vertragliche Ansprüche gegen die Beklagte zustünden. Daneben sei ihm die Beklagte auch wegen unerlaubter Handlung zum Schadensersatz verpflichtet. Hinsichtlich des Klagevorbringens in erster Instanz wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Klageseite vom 10.07.2019 (Bl. 1/25 d.A.), vom 24.10.2019 (Bl. 61/129 d.A.), vom 17.02.2020 (Bl. 167/168 d.A.), vom 17.02.2020 (Bl. 169/279 d.A.) und vom 26.06.2020 (Bl. 289/494 d.A.). Die Beklagtenseite hat das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung bestritten. Hinsichtlich ihres Vorbringens in erster Instanz wird auf ihre Schriftsätze vom 16.10.2019 (Bl. 36/57 d.A.) und vom 19.12.2019 (Bl. 143/166 d.A.) Bezug genommen.

Das Landgericht hat die in der Hauptsache auf Zahlung von 65.396 EUR abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs gerichtete Klage mit dem angegriffenen Urteil vom 10.08.2020 abgewiesen. Ein Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags bestehe nicht. Der Kläger habe nicht schlüssig dargelegt, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung zum Einsatz komme.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein auf Rückabwicklung des Fahrzeugkaufvertrags gerichtetes Klageziel im Wesentlichen weiter. Hinsichtlich des Vortrags des Klägers in der Berufungsinstanz wird auf die Berufungsbegründung vom 16.10.2020 (Bl. 515/533 d.A.) Bezug genommen. Der Klä...

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