Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Missbrauch von Kindern
Leitsatz (amtlich)
Erklärt in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes der Vormund einer zehnjährigen Zeugin für diese die Zeugnisverweigerung nach § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO, so darf das Verfahren nicht in entsprechender Anwendung von § 205 Satz 1 StPO vorläufig eingestellt werden, bis die Zeugin die nötige Verstandesreife für eine eigene Entscheidung über die Zeugnisverweigerung erlangt hat.
Normenkette
StPO §§ 205, 52 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Beschluss vom 24.04.2001; Aktenzeichen 7 KLs 23 Js 70975/97-6/99) |
StA Stuttgart (Aktenzeichen 23 Js 70975/97) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts – Jugendkammer – Stuttgart vom 24. April 2001
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Tatbestand
I.
Dem Angeklagten wird in der Anklageschrift vom 20. April 1999 vorgeworfen, er habe sich in acht rechtlich selbstständigen Handlungen jeweils eines Vergehens des sexuellen Missbrauchs eines Kindes (§ 176 Abs. 1 und 3 StGB a.F.) in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB) schuldig gemacht. Die Taten soll der Angeklagte zwischen dem 19. April 1994 und dem 08. Oktober 1996 in seiner damaligen Wohnung in Fellbach zum Nachteil seiner am 19. April 1991 geborenen leiblichen Tochter J. R. begangen haben. Mit Beschluss vom 07. Dezember 1998 hat das Vormundschaftsgericht beim Amtsgericht Waiblingen dem Angeklagten und der mit ihm verheirateten A. R.t das elterliche Sorgerecht für die Tochter J. sowie für den am 30. April 1992 geborenen Sohn B. entzogen und die Vormundschaft angeordnet, die jetzt vom Jugendamt des Landkreises L. ausgeübt wird. Nachdem Termin zur Hauptverhandlung auf den 03. Juli 2000 und weitere Tage bestimmt worden war, teilte das Kreisjugendamt L. als Vormund dem Landgericht Stuttgart am 15. Juni 2000 schriftlich mit, dass beide Kinder von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werden. Hierauf hat der Vorsitzende der Jugendkammer den Termin zur Hauptverhandlung aufgehoben; am 24. April 2001 hat die Jugendkammer nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten das Verfahren in analoger Anwendung von § 205 StPO vorläufig eingestellt. Sie vertritt die Auffassung, die Zeugin J. R. werde in zwei bis drei Jahren über die zur rationalen Beurteilung des Zeugnisverweigerungsrechts nötige Verstandesreife verfügen; danach werde eine Hauptverhandlung entweder unter persönlicher Vernehmung der Zeugin oder auf der Basis der übrigen Erkenntnisquellen durchzuführen sein.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Angeklagten ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig; § 305 Satz 1 StPO steht nicht entgegen, weil die angefochtene Entscheidung der Urteilsfällung nicht im Sinne eines inneren Zusammenhangs vorausgeht.
2. Die Beschwerde ist auch in der Sache begründet. Die analoge Anwendung von § 205 StPO ist hier rechtlich nicht zulässig.
a) Nach § 205 Satz 1 StPO kann das Verfahren vorläufig eingestellt werden, wenn der Hauptverhandlung für längere Zeit die Abwesenheit des Angeschuldigten oder ein anderes in seiner Person liegendes Hindernis entgegensteht. Dass der Wortlaut der Bestimmung auf den Fall der Verhinderung der Zeugin infolge der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts durch den Vormund nicht passt, ist offenkundig.
b) Die von der Jugendkammer zur Begründung der analogen Anwendung des § 205 Satz 1 StPO angeführten Gründe überzeugen nicht.
aa) Allerdings wird im Schrifttum zur Strafprozessordnung teilweise die Auffassung vertreten, dass eine vorläufige Verfahrenseinstellung auch bei nicht in der Person des Angeschuldigten liegenden, zwar vorübergehenden, jedoch voraussichtlich länger dauernden Verfahrenshemmnissen wie beispielsweise der länger dauernden Abwesenheit oder sonstigen Verhinderung eines wichtigen Zeugen zulässig sei (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Auflage, § 205 Rdnr. 8; Meyer-Goßner, JR 1984, 436; Rieß in LR, StPO, 24. Auflage, § 205 Rdnr. 22; Loos in AK-StPO, § 205 Rdnr. 9; Krause GA 1969, 99 [für das Vorverfahren]). Zur Begründung wird im wesentlichen darauf verwiesen, dass das aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK folgende (einfache) Beschleunigungsgebot nur eine Entscheidung „in angemessener Frist” verlange, ohne deren Dauer zu benennen; darüber dürfe das zentrale Anliegen des Strafprozesses, nämlich die Ermittlung des wahren Sachverhalts (BVerfGE 57, 250, 275) nicht vergessen werden. Beide Grundsätze müssten miteinander in Einklang gebracht werden. Es sei rechtsstaatlich unbedenklich, mit einem Verfahren innezuhalten, wenn es in absehbarer Zeit weiterbetrieben werden könne. Das ergebe sich aus den Vorschriften des § 251 Abs. 1 Nr. 1 und 2 sowie Abs. 2 StPO, die eine Verlesung von Zeugenaussagen erst bei einer Verhinderung des Zeugen für längere oder unbestimmte Zeit zuließen. Damit sei ein Innehalten mit den Verfahren...