Verfahrensgang
AG Reutlingen (Entscheidung vom 10.02.2022; Aktenzeichen 4 Cs 14 Js 23428/21) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Reutlingen vom 10. Februar 2022
aufgehoben.
Der Angeklagte wird
freigesprochen.
- Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Reutlingen verurteilte den Angeklagten mit Urteil vom 10. Februar 2022 wegen Beleidigung zu der Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 30,00 €.
Die Verurteilung beruhte auf folgenden Sachverhaltsfeststellungen:
"Am 29.07.2021 beleidigte der Angeklagte über einen Kommentar auf der Plattform Instagram - vermutlich von seiner Wohnanschrift in der ... aus - den Landtagsabgeordneten der Partei ... mit den Worten "Wer braucht den Nazi in ...???", um seine Missachtung auszudrücken. Der Post des Angeklagten erfolgte unter einem von ... geposteten Bildbeitrag samt Text, welcher den Geschädigten ... mit dem Bürgermeister der Stadt ..., ..., vor einer Luftbildaufnahme der Gemeinde ... zeigte. Von ... wurde das Bild durch einen Text wie folgt ergänzt: "Unterwegs im Wahlkreis: Heute war ich im Rahmen meines Antrittsbesuchs bei ... Bürgermeister ... zu Gast. Thema war dabei vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse u.a. die Vorbereitung auf den Katastrophenfall. In diesem Zusammenhang habe ich Herrn ... auch meine anstehende parlamentarische Initiative zur Förderung von Regenwassernutzungsanlagen vorgestellt, mit welchen - neben anderen Effekten - die Auswirkungen örtlich extrem starker Niederschläge abgemildert werden können. Über seine positive Rückmeldung hierzu habe ich mich sehr gefreut. Auch ansonsten war das Gespräch höchst interessant und ich war beeindruckt, wie gut ... industriell aufgestellt ist. Ich bedanke mich für die Möglichkeit, tiefe Eindrücke in die Lage der Gemeinde gewinnen zu können und Herrn ... kennenlernen zu dürfen."
Direkt unter diesem Eintrag bzw. Post des Bildes war die Äußerung des Angeklagten gepostet. Hierunter befindet sich ein Icon mit einem Herzsymbol und der Unterschrift "gefällt 21 Mal".
Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die näher ausgeführte Sachrüge gestützten Revision.
Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat beantragt, das Rechtsmittel durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die Revision ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Das angefochtene Urteil hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Bei einer Beleidigung handelt es sich um die Kundgabe von Nichtachtung oder Missachtung gegenüber einem anderen in der Weise, dass dem Betroffenen - sei es durch Äußerung eines herabsetzenden Werturteils unmittelbar ihm gegenüber, sei es durch Äußerung eines solchen in Bezug auf diesen einer dritten Person gegenüber - der ethische, personale und soziale Geltungswert ganz oder teilweise abgesprochen und dadurch dessen grundsätzlich uneingeschränkter Ehr- und Achtungsanspruch verletzt oder gefährdet wird (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. November 2019 - 2 Rv 34 Ss 714/19).
Ob dies der Fall ist, ist unter Heranziehung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der konkreten Situation, in der es zu der Äußerung kam, der Art der Beziehung, die zwischen den Beteiligten besteht, sowie der Milieuzugehörigkeit des Tatverdächtigen durch Bestimmung des objektiven Sinngehalts der Äußerung zu ermitteln (OLG Karlsruhe aaO). Dabei ist stets das Grundrecht der Meinungsfreiheit zu beachten. Unter dessen Schutz fallen Werturteile und Tatsachenbehauptungen, wenn und soweit sie zur Bildung von Meinungen beitragen (BVerfG, NJW 2017, 1460).
Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährt, sondern findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch § 185, § 193 StGB gehören. Bei der Anwendung dieser Vorschriften ist aber das eingeschränkte Grundrecht interpretationsleitend zu berücksichtigen, damit dessen wertsetzender Gehalt auch bei der Rechtsanwendung gewahrt bleibt (BVerfG aaO). Dies verlangt grundsätzlich eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die im Raum stehende Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch ihr Verbot andererseits. Das Abwägungserfordernis gilt in aller Regel selbst bei Äußerungen, die die persönliche Ehre erheblich herabsetzen (BVerfG, NJW 2020, 2631, 2632).
Bei Äußerungen gegenüber Politikern ist zudem die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, wonach die Grenzen zulässiger Kritik an Politikern weiter zu ziehen sind als bei Privatpersonen (EGMR, Urteil vom 14. März 2013 - 26118/10). Gleichwohl ist das Ergebnis der Abwägung verfassungsrechtlich nicht vorgegeben, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfGE 99, 185, 196).
Einen Sonderfall bilden hingegen herabsetzende Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Dann ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit un...