Leitsatz (amtlich)
1. Sind die von einem Verletzten geklagten Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule weder medizinisch mit der erforderlichen Sicherheit nachweisbar noch kraftfahrzeugtechnisch erklärbar, weil die bei einem Verkehrsunfall aufgetretenen Kräfte im sog. "Harmlosigkeitsbereich" liegen, kann sich ein Gericht gleichwohl aufgrund der gesamten Umstände des Falles einschließlich der Angaben des Verletzten von der Unfallursächlichkeit der geklagten Beschwerden überzeugen (BGH v. 28.1.2003 - VI ZR 139/02, MDR 2003, 566 = BGHReport 2003, 487 = NZV 2003, 167).
2. Die Unfallursächlichkeit kann sich insb. daraus ergeben, dass die vom Verletzten glaubhaft geklagten Beschwerden mit einer medizinisch festgestellten Vorerkrankung in Einklang zu bringen sind, aufgrund der ausnahmsweise schon geringe, auf den Körper einwirkende Kräfte zur Herbeiführung der Verletzungsfolgen ausreichen können.
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Urteil vom 14.04.2004; Aktenzeichen 9 O 66/03) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des LG Stuttgart vom 14.4.2004 (9 O 66/03) abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 14.940,36 Euro nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 11.158,29 Euro seit 4.5.2002 und aus 3.782,07 Euro seit 19.7.2002 zu bezahlen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 14.940,36 Euro.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen, §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO.
Gründe
Das zulässige Rechtsmittel der Klägerin ist begründet. Der Klägerin steht aus übergegangenem Recht gegen die Beklagte ein Schadensersatzanspruch in der titulierten Höhe zu, § 7 Abs. 1 StVG, § 3 Nr. 1, 2 PflVG i.V.m. § 6 Abs. 1 EFZG.
1. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass der Versicherungsnehmer der Beklagten den streitgegenständlichen Verkehrsunfall in C. am 15.6.2001 allein verursacht hat, indem er gegen 12.20 Uhr mit seinem Pkw von rechts aus einer wartepflichtigen Nebenstraße in die vorfahrtsberechtigte Hauptstraße einbog und mit dem auf der Hauptstraße fahrenden, vom Arbeitnehmer der Klägerin gelenkten Fahrzeug auf Höhe des rechten Hinterrads zusammenstieß. Dadurch drehte sich das Fahrzeug des Arbeitnehmers der Klägerin und stieß gegen den Bordstein der rechten Fahrbahnseite. Nicht im Streit steht ferner, dass die Klägerin in der Folgezeit den mit der Klage geltend gemachten Betrag im Wege der Lohnfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz an ihren Arbeitnehmer entrichtete.
2. Die Parteien vertreten gegensätzliche Standpunkte allein zur Frage, ob dieser Verkehrsunfall ursächlich dafür war, dass der Arbeitnehmer der Klägerin eine Brustwirbelsäulentorsion, ein Halswirbelsäulenschleudertrauma sowie eine posttraumatische Lumboischialgie erlitt und deswegen bis 1.4.2002 arbeitsunfähig war. Obwohl dies weder kraftfahrzeugtechnisch noch medizinisch nachgewiesen werden konnte, ist der Senat - anders als das LG - davon überzeugt, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers der Klägerin auf den vom Versicherungsnehmer der Beklagten verursachten Unfall v. 15.6.2001 zurückzuführen sind.
a) Durch die eingeholten bzw. vorgelegten Gutachten konnten zwar objektivierbare gesundheitliche Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers der Klägerin und deren Unfallursächlichkeit nicht festgestellt werden.
aa) In seinem mündlich erstatteten kraftfahrzeugtechnischen Gutachten ist Dipl.-Ing. K. unter ergänzender Bezugnahme auf sein mündliches Gutachten in dem durch Klagerücknahme beendeten Vorprozess, in dem der Arbeitnehmer der Klägerin die Beklagte auf Schmerzensgeld und Ersatz des ihm entstandenen materiellen Schadens in Anspruch genommen hatte, zu dem Ergebnis gelangt, dass die Unfallrekonstruktion anhand der gefertigten Lichtbilder auf Kräfte im sog. "Harmlosigkeitsbereich" schließen lasse. Nach seiner Berechnung liegt die stoßbedingte Geschwindigkeitsänderung in einer Größenordnung von höchstens 15 km/h. Die auf den Körper des Klägers bei dem Aufprall einwirkende Maximalbeschleunigung gab er bei einer Stoßzeit von 0,1 Sekunden mit dem 4,25-fachen der Erdbeschleunigung an, wobei wahrscheinlicher sei, dass dieser Wert lediglich im Bereich der 3,4-fachen Erdbeschleunigung liege. Seiner Ansicht nach sind die vom Arbeitnehmer der Klägerin geklagten Beschwerden angesichts der mechanischen Beanspruchung aus kraftfahrzeugtechnischer Sicht mit dem Unfallhergang nicht zu erklären.
bb) Ein von der Beklagten vorgelegtes Privatgutachten eines Facharztes für Chirurgie und Unfallchirurgie kommt aus medizinischer Sicht zu dem Ergebnis, dass unfallspezifische Verletzungen nicht nachweisbar seien. Grundlage dieser Beurteilung waren eine Auswertung der klinischen Befunde und der vorhandenen Röntgenbilder sowie eine kraftfahrzeugtechnische Analyse, nach der eine Belastung mit überwiegender Querbelastung bis zum 2,3-fachen der Erdbeschleunigung vorgelegen habe. Ferner is...