Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Eingangsuntersuchung einer vor der Entbindung stehenden Patientin, bei der die Blase bereits gesprungen ist, muß die Lage des Kindes sicher abgeklärt werden. Darüber hinaus muß der Höhenstand des Feten zuverlässig festgestellt werden. Geschieht dies nicht, so kommen der Patientin Beweiserleichterungen hinsichtlich der Feststellungen zu, wie der Befund ausgesehen hätte, wenn das Befundergebnis hinreichend wahrscheinlich ist.
2. Zur Folgenzurechnung dieses Diagnoseversäumnisses angesichts der Pflicht zur Aufklärung über Entbindungsalternativen bei vorzeitigem Blasensprung und Beckenendlage.
3. Es stellt einen groben organisatorischen Mangel dar, wenn eine gebotene Notsectio dadurch um 6 Minuten verzögert wird, daß den ärztlichen Mitgliedern des Operationsteams nicht bekannt ist, wo sich der Schlüssel zum Operationssaal befindet. War der Zeitverzug geeignet, eine Schädigung des Neugeborenen mit herbeizuführen, trifft den Krankenhausträger die Beweislast dafür, daß die Verzögerung nicht ursächlich war.
4. 280.000 DM Schmerzensgeld für eine massive Mehrfachbehinderung im Sinne einer Zerebralparese mit nahezu vollständiger Lähmung und geistiger Behinderung bei teilweise vorhandener Empfindungsfähigkeit infolge einer vorwerfbaren Geburtsschädigung.
Verfahrensgang
LG Ellwangen (Entscheidung vom 25.02.1998; Aktenzeichen 5 O 412/96) |
Tenor
I.
Auf die Berufung des Klägers und im Wege der Anschlußberufung auf die Berufung der Beklagten Ziff. 2 wird das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 25.02.98 - 5 O 412/96 - wie folgt abgeändert und neu gefaßt:
1.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 280.000,00 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 26.01.99 zu bezahlen.
2.
Es wird festgestellt, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger den gesamten materiellen Schaden zu ersetzen, der diesem aus der fehlerhaften Geburtsleitung der Beklagten Ziff. 2 und der vom Beklagten Ziff. 1 zu vertretenden verzögerten Geburt am 02. und 03.03.92 im Kreiskrankenhaus C. entstanden ist und künftig entstehen wird, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Berufung der Beklagten Ziff. 2 und die weitergehende Anschlußberufung des Klägers werden zurückgewiesen.
III.
Die Beklagten tragen die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz als Gesamtschuldner.
Von den Kosten des zweiten Rechtzugs tragen 1/10 der Kläger und 9/10 die Beklagten als Gesamtschuldner.
IV.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagten können die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 345.000,00 DM abwenden, der Kläger die Vollstreckung der Beklagten in Höhe von jeweils 3.000 DM, wenn nicht die Beklagten vor Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leisten.
Wert der Berufung:
bis zur Klagänderung (Feststellungsantrag): |
500.000,00 DM. |
Danach: |
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Schmerzensgeld |
350.000,00 DM; |
Feststellungsantrag mat. Schaden |
250.000,00 DM, |
insgesamt |
600.000,00 DM. |
Beschwer: |
jeweils über 60.000,00 DM. |
Tatbestand
Der Kläger begehrt wegen eines groben Behandlungs- und Organisationsverschuldens im Zusammenhang mit seiner Geburt nunmehr die Zahlung eines Schmerzensgeldes und die Feststellung der gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten hinsichtlich sämtlicher materieller Schäden.
Die damals 28 Jahre alte Mutter des Klägers war mit ihm seit Mitte 1991 zum dritten Mal schwanger. Errechneter Geburtstermin war der 27.03.92. Die Schwangerschaft verlief ohne Komplikationen. Am Montag, dem 02.03.92 (Rosenmontag), in der 37. Schwangerschaftswoche, kam es gegen 22.00 Uhr ohne Wehen zu einem Blasensprung mit Abgang von klarem Fruchtwasser. Die Eltern des Klägers begaben sich deshalb in die gynäkologische Abteilung des Kreiskrankenhauses C., dessen Träger der Beklagte Ziff. 1 ist. Die Entbindungsabteilung des Kreiskrankenhauses C. ist eine Belegabteilung. Die Beklagte Ziff. 2 ist dort Belegärztin und war damals für die Station zuständig. Sie hatte bereits am Wochenende Dienst gehabt; die Vertretungsregelung obliegt den Belegärzten. Gegen 22.30 Uhr erfolgte die stationäre Aufnahme. Die Beklagte Ziff. 2 führte eine vaginale Untersuchung durch. Streitig ist, ob und in welchem Umfang dabei eine äußere Untersuchung stattfand. Dazu ist dokumentiert: Portio 4 cm lang, Muttermund nahezu geschlossen, Schädellage. Im Geburtsprotokoll ist auf einem vorgedruckten Diagramm, das die Höhenstände darstellt, die Angabe - 4 OSFR (= obere Schoßfugenrandebene) mit einem runden Kreis gekennzeichnet. Ein gleichzeitig angelegtes CTG war unauffällig. Die Schwangere wurde deshalb gegen Mitternacht auf die Station verlegt; besondere Anweisungen erhielt sie nicht. Für 07.00 Uhr war die Einleitung der Geburt durch Infusion vorgesehen.
Am nächsten Morgen suchte die Mutter des Klägers gegen 06.00 Uhr die Toilette in ihrem Zimmer auf; dabei fiel die Nabelschnur etwa 50 cm aus der Scheide. Sie betätigte des...