Leitsatz (amtlich)
Eine Nötigung mit Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB liegt vor, wenn der durch das Blockieren einer Straße gegenüber den ersten Kraftfahrern ausgeübte Zwang sich unmittelbar in physische Hindernisse umsetzt, indem diese Personen und ihre Fahrzeuge bewusst als Werkzeug zur tatsächlichen Behinderung der Nachfolgenden benutzt werden. Anlass, von dieser verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung abzuweichen, besteht nicht. Entspricht das Blockieren mehrerer Straßen einem gemeinsam gefassten Tatplan, muss sich jeder in die Aktion eingebundene Mittäter die durch das Handeln seiner Tatgenossen plangemäß errichteten Straßensperren und dadurch hervorgerufene Folgen zurechnen lassen. Die Beurteilung der Verwerflichkeit im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB erfordert eine an den Einzelfallumständen orientierte Abwägung. Im Hinblick auf den Wortlaut und den von § 240 StGB bezweckten Schutz der Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung kann die Grenze zur Verwerflichkeit ohne Weiteres auch ohne eine Gefährdung Dritter überschritten sein. Eine Rechtfertigung von Straßenblockaden aus Art. 8 Abs. 1 GG, nach § 34 StGB sowie unter dem Aspekt des sog. zivilen Ungehorsams ist ausgeschlossen. Das Flachdach einer Mehrzweckhalle, zu dem kein allgemeiner oder regulärer Zugang eröffnet ist und dessen Betreten ohne mitgebrachte Aufstiegshilfe unmöglich ist, stellt ein befriedetes Besitztum im Sinne des § 123 Abs. 1 StGB dar.
Normenkette
StGB § 240 Abs. 1-2, § 123 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Ravensburg (Entscheidung vom 17.10.2022; Aktenzeichen 3 Ns 120 Js 21871/21 jug.) |
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 17. Oktober 2022 hinsichtlich des Freispruchs der Angeklagten vom Vorwurf der Taten 1 (22. Februar 2021) und 3 (29. April 2021) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Kleine Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Die im Jahr 2003 geborene Angeklagte hat sich wiederholt als Umweltaktivistin gegen den Kiesabbau engagiert. Die Staatsanwaltschaft legte ihr das Abhalten einer unangemeldeten Versammlung in Tateinheit mit Hausfriedensbruch am 22. Februar 2021 (Tatvorwurf 1), das Abhalten einer unangemeldeten Versammlung im März 2021 (Tatvorwurf 2) sowie Nötigung in Tateinheit mit der Teilnahme an einer Versammlung in einer Aufmachung zur Verhinderung der Feststellung ihrer Identität am 29. April 2021 (Tatvorwurf 3) zur Last. Wegen dieser Taten verurteilte das Amtsgericht Wangen die Angeklagte zur Ableistung von 80 Stunden gemeinnütziger Arbeit.
Die Berufung der Angeklagten führte vor dem Landgericht Ravensburg zu einem Freispruch. Hiergegen richtet sich die von der Generalstaatsanwaltschaft vertretene Revision der Staatsanwaltschaft. Sie greift - nach teilweiser Rücknahme der Revision sowie nach der Beschränkung des Verfahrens auf die Vorwürfe des Hausfriedensbruchs und der Nötigung - den Freispruch von den Tatvorwürfen 1 und 3 an.
Die Revision hat im verbliebenen Umfang vollen Erfolg.
I.
1. Zum ersten Tatvorwurf hat das Landgericht im Wesentlichen festgestellt:
Am 22. Februar 2021 fand ab 19 Uhr in der Mehrzweckhalle der Gemeinde ... eine Gemeinderatssitzung zum Regionalplan Bodensee-Oberschwaben statt. Gegen 18.30 Uhr kletterten die Angeklagte und der gesondert verfolgte ... mit Hilfe einer Leiter auf das nicht gesicherte Hallenflachdach und enthüllten dort ein ca. acht Quadratmeter großes Transparent mit der Aufschrift "Stoppt den Klimahöllenplan", um die Teilnehmer der Gemeinderatssitzung auf ihrer Meinung nach mit den Projekten des Regionalplans einhergehenden Folgen für die Umwelt aufmerksam zu machen. Die Angeklagte und ... verließen das Dach erst nach Beginn der Gemeinderatssitzung. Der Bürgermeister der Gemeinde stellte am 2. März 2021 Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs.
Den Freispruch von diesem Vorwurf hat das Landgericht damit begründet, dass es an einem Eindringen in ein befriedetes Besitztum fehle.
2. Zum Tatvorwurf 3 hat das Landgericht festgestellt:
Die Angeklagte schloss sich mit zehn Personen zusammen, um durch eine auf "einen gemeinsamen Tatplan zurückgehende gemeinschaftlich ausgeführte Aktion" den Betrieb von zwei Kieswerken zu stören. In Umsetzung dieser Aktion, die wegen des beabsichtigten Überraschungseffekts vorher geheim gehalten wurde, wurden fünf aus je zwei Personen bestehende "Posten" gebildet.
Vier dieser Posten besetzten die Zufahrten zum Kieswerk ... GmbH & Co.KG in ..., indem sie - auf einer Fahrbahnseite 4-5m über dem Boden, auf der anderen Seite bodennah, dh schräg abfallend über die Straße - Seile spannten, an denen sie Hängematten befestigten. In jeder Hängematte lag eine Person; die andere Person postierte sich davor mit einem Hinweis auf die Hängematte bzw. einer "Warnung vor Weiterfahrt". Ferner waren Hinweisschilder mit dem Schriftzug "da hängt ein...