Leitsatz (amtlich)

1. Hat ein Kraftfahrzeughersteller im Typgenehmigungsverfahren angegeben, dass die Abgasrückführung u. a. temperaturgesteuert erfolgt, so kommt dem Typgenehmigungsbescheid Tatbestandswirkung hinsichtlich der Funktion eines so genannten "Thermofensters" zu; die Tatbestandswirkung entzieht den Verwaltungsakt der Nachprüfung durch die Zivilgerichte (st. Rspr., etwa BGH, Urt. v. 30.04.2015 - I ZR 13/14 -, Rn. 31, juris) mit der Folge, dass eine unzulässige Abschalteinrichtung insoweit nicht festgestellt werden kann.

2. Eine gleichwohl anzunehmende Täuschung der Typgenehmigungsbehörde wegen einer ggf. erwartungs-widrigen Konfiguration des "Thermofensters" kann jedenfalls nicht festgestellt werden, wenn die Reduzierung der Abgasrückführung bei 10° C einsetzt.

3. Hat ein Kraftfahrzeughersteller Angaben wie in Ls. 1. gemacht, kann mangels Behördentäuschung (hierzu BGH, Urt. v. 30.07.2020 - VI ZR 5/20) auch nicht davon ausgegangen werden, dass er sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB gehandelt hat.

4. Die Geltendmachung des Minderwertes ("kleiner Schadensersatz") ist auch im Anwendungsbereich von § 826 BGB grundsätzlich denkbar. Voraussetzung ist eine vorbestehende Sonderverbindung - ein vertragliches oder vertragsähnliches Sonderverhältnis - zwischen Schädiger und Geschädigtem. Überdies muss der Geschädigte darlegen, dass der Kaufvertrag gleichwohl, aber zu einem geringeren Kaufpreis zustande gekommen wäre.

 

Normenkette

BGB § 249 Abs. 1, § 823 Abs. 2, § 826

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Urteil vom 19.11.2019; Aktenzeichen 15 O 151/19)

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das am 19.11.2019 verkündete Urteil des Einzelrichters der 15. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart, Az. 15 O 151/19, wird zurückgewiesen.

2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Beschluss

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis 7.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Klägerin nimmt die Beklagte als Herstellerin auf Schadensersatz wegen Inverkehrbringens eines - nach klägerischer Darstellung - abgasmanipulierten Fahrzeugs in Anspruch. Auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils wird Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).

1. Die Klägerin kaufte im Januar 2017 ein von der Beklagten hergestelltes Fahrzeug der Marke Mercedes Benz (C 300 T CDI 4 Matic, Erstzulassung Juli 2013) von der am Rechtsstreit nicht beteiligten Autohaus ... als Gebrauchtfahrzeug zu einem Kaufpreis von 32.048,00 EUR bei einem Kilometerstand von 62.400. Das Fahrzeug war mit einem - ebenfalls von der Beklagten hergestellten - Dieselmotor (Emissionsklasse Euro 5) ausgerüstet, der die Motortypbezeichnung OM 642 führt.

Für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp gibt es einen Typgenehmigungsbescheid des Kraftfahrt-Bundesamts (im Weiteren: KBA).

Die Klägerin hat das Fahrzeug zwischenzeitlich weiterverkauft.

2. Die sogenannte Abgasrückführung (bei der das im Rahmen der Verbrennung entstandene Abgas - ganz oder teilweise - in den Brennraum zurückgeleitet wird und somit erneut an der Verbrennung teilnimmt, was sich mindernd auf die Stickoxidemissionen auswirkt), funktioniert bei dem Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs u. a. temperaturgesteuert, wird also bei Unterschreiten einer Schwellentemperatur reduziert.

Konkret beginnt die Reduzierung der Abgasrückführung (im Weiteren auch: AGR) bei ca. 10° C. Die Details und die Bewertung sind streitig.

3. Eine vorgerichtliche anwaltliche Zahlungsaufforderung vom 17.10.2018 mit Fristsetzung auf 31.10.2018 hat die Beklagte umgehend zurückgewiesen.

4. a) Die Klägerin behauptete in erster Instanz:

Vor dem Hintergrund der oben dargestellten AGR halte das Fahrzeug die NOx- Grenzwerte im Wesentlichen nur auf dem Prüfstand ein.

Die Beklagte habe sich aus übermäßigem Gewinnstreben über diesbezügliche Bedenken hinweggesetzt und unter Aushebelung zentraler Zulassungsvorschriften durch Täuschung des KBA und bei bewusst verschleierndem Vorgehen das Vertrauen zahlreicher Kunden in die Ordnungsmäßigkeit des Typgenehmigungsverfahrens ausgenutzt, mithin auch diese getäuscht.

Hiervon sowie von der Implementierung der o. g. (nach Bewertung der Klägerin) unzulässigen Abschalteinrichtung, die die Klägerin als "Thermofenster" bezeichnet, hätten Repräsentanten der Beklagten, jedenfalls der Vorstand bzw. Vorstandsmitglieder, Kenntnis gehabt.

Hätte sie - die Klägerin - selbst Kenntnis vom Vorhandensein einer Abschalteinrichtung bzw. von dem ohne diese grenzwertüberschreitenden Schadstoffausstoß gehabt, hätte sie von dem Kauf des streitgegenständlichen Fahrzeugs abgesehen.

Ihr Schaden liege im nicht gewollten Vertragsschluss, in der während ihrer Besitzzeit gefährdeten Zulassung sowie in der Wertminderung des Fahrzeugs: Es habe zum Zeitpunkt des Erwerbs aufgrund des implementierten Thermofensters einen merkantilen Minderwert in Höhe von 20% des Kaufpreises gehabt.

b) Sie bestritt, dass die Reduzierung der AGR ab einstelligen Plusgraden aus Motorschutzgründen notwendig im Sinne...

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