Leitsatz (amtlich)
Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn dem Versicherten diejenigen Tätigkeiten, die seine frühere Arbeitstätigkeit ausgemacht haben, aufgrund ihrer Komplexität sowie der körperlichen und geistigen Anforderungen nahezu nicht mehr möglich sind, und ihm ansonsten nur noch kleine frühere Tätigkeitsbereiche verbleiben, die noch ausgeübt werden können.
Normenkette
VVG § 172
Verfahrensgang
LG Rottweil (Urteil vom 05.08.2015; Aktenzeichen 3 O 102/11) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des LG Rottweil vom 5.8.2015 - 3 O 102/11 - abgeändert und in den Ziffern 1 und 2 - wie folgt - neu gefasst
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 42.610,26 Euro nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 16.785,86 Euro seit dem 2.6.2009 sowie aus weiteren jeweils 1.291,22 Euro zum 1. eines Monats, beginnend ab dem 1.7.2009 und letztmals ab dem 1.2.2011 zu bezahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 8.067,90 Euro nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.4.2011 zu bezahlen.
sowie in Ziffer 5 aufgehoben.
Im Umfang der Abänderung wird die Klage im Übrigen abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
III. Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 Prozent des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitwert für die I. und II: Instanz: bis zu 120.000 Euro.
Gründe
I. Die Klägerin macht Ansprüche wegen behaupteter Berufsunfähigkeit aus einer bei der Beklagten genommenen Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung geltend, hinsichtlich derer die Beklagte den Rücktritt erklärt hat.
Mit Antrag vom 20.6.2003 (Anlage B 7 = GA I 194 ff.) beantragte die Klägerin bei der Beklagten den Abschluss einer fondsgebundenen Rentenversicherung mit Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Dabei verneinte sie unter Ziff. 3 die Frage:
"Sind Sie in den letzten 5 Jahren wegen Krankheiten, Beschwerden oder Störungen untersucht, beraten oder behandelt worden hinsichtlich: Herz, Kreislauf, innerer Organe, Harnwege, Bluthochdruck, Atmungsorgane, Gefäße, Drüsen, Gehirn, Nerven, Psyche, Blut, Zucker, Stoffwechsel, Krebs, Tumore, Knochen, Gelenke, Wirbelsäule, Muskeln, Augen, Ohren, Haut, Allergien, Infektionen, Verletzungen, Vergiftungen, Alkohol- oder Drogenkonsum?"
Die Beklagte nahm den Antrag ausweislich des Versicherungsscheins vom 14.8.2003 an (Anlage K 1 = GA I 48 ff.); dem Vertrag liegen unter anderem die Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (im Folgenden: BUZV - Anlage B 1 = GA I 125 ff.) zugrunde.
Zum Jahresende 2006 traten bei der Klägerin Schwindel- und Lähmungserscheinungen auf, in deren Folge sie sich in stationäre Behandlung mit anschließender Rehabilitation begab. Nach einer Wiedereingliederung war die Klägerin vom 22.4.2008 bis zum 20.5.2008 erneut in einer Rehabilitationsmaßnahme, an die sich eine Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zum 18.6.2009 anschloss. Bei der Klägerin ist festgestellt ein Zustand nach Mediateilinfarkt rechts mit hämorrhagischer Infarzierung, ein hirnorganisches Psychosyndrom mit kognitiven Defiziten, vorzeitige Ermüdbarkeit i. S. eines Fatigue-Syndrom mit zerebraler Durchblutungsstörung und Hirnschädigung sowie eine Zölakie. Am 13.7.2009 vereinbarte die Klägerin mit ihrem Arbeitgeber die Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit ab dem 1.7.2009 auf 20 Stunden (Anlage K 7 = GA I 85).
Anfang März 2009 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass bei ihr bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorliege. In der Folge erklärte die Beklagte unter Berufung auf eine vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung mit Schreiben vom 27.5.2009 (Anlage K 12 = GA I 101 f.) vorsorglich den Rücktritt von der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Zudem lehnte sie mit Schreiben vom 28.1.2010 die Erbringung von Leistungen aus der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung ab, da die Klägerin ihr letzte Tätigkeit als technische Assistentin noch zu mehr als 50 Prozent ausüben könne (Anlage K 14 = GA I 106).
Die Klägerin hat in erster Instanz geltend gemacht, bei ihr liege seit dem 20.5.2008 bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vor. Aufgrund der eingetretenen Hirnschädigung bestünden deutliche kognitive Leistungseinbußen; sie sei daher in ihrem zuletzt ausgeübten Beruf nur noch eingeschränkt belastbar. Eine längere Arbeitszeit als vier Stunden sei ihr nicht mehr möglich. Verschiedene - näher ausgeführte - Tätigkeiten und Aufgaben, die sie vor dem Schlaganfall ausgeübt habe, seien ihr nicht mehr möglich; diese seien auf Kollegen übertragen worden. Zudem benötige sie mehr Zeit, um Zusammenhänge zu verstehen. Teilweise habe sie ihre Arbeitsabläufe umstrukturiert. ...