Leitsatz (amtlich)
Geht es um eine im absoluten Maß vergleichsweise niedrige Geschwindigkeitsüberschreitung - hier von 22 km/h - ist nicht ohne weiteres und stets anzunehmen, der Fahrer habe die Übertretung anhand der äußeren Kriterien (Motorengeräusche, sonstige Fahrgeräusche, Fahrzeugvibration und Schnelligkeit der Änderung in der Umgebung) zwanglos erkannt.
Verfahrensgang
AG Kaiserslautern (Entscheidung vom 16.02.2022; Aktenzeichen 8 OWi 6070 Js 1450/22) |
Tenor
I.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Kaiserslautern vom 16.02.2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
II.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht hat den Betroffenen auf dessen rechtzeitig eingelegten Einspruch gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidiums Rheinpfalz - Zentrale Bußgeldstelle vom 03.11.2021 (Az. 11.7505128.3) wegen vorsätzlichen Überschreitens der erlaubten Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 22 km/h zu einer Geldbuße von 140,-- EUR verurteilt.
Der Einzelrichter hat auf Antrag des Betroffenen die Rechtsbeschwerde mit Beschluss vom 23.06.2022 zugelassen und die Sache dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (§ 80a Abs. 3 S. 1 OWiG).
Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Rechtsbeschwerde ist begründet.
I.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene am 14.08.2021 um 00:30 Uhr die BAB 6 in Fahrtrichtung Saarbrücken, wobei in Höhe des Fahrtrichtungskilometers 625,8 im Bereich einer dort eingerichteten Baustelle seine Geschwindigkeit (toleranzbereinigte) 82 km/h betrug. Damit überschritt er die an der Messstelle zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 22 km/h. Im Streckenverlauf vor der Messstelle war die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch jeweils beidseitig aufgestellte Verkehrszeichen zunächst auf 100 km/h, sodann auf 80 km/h und zuletzt - etwa 150 - 200 m vor der Messstelle, auf 60 km/h beschränkt. Zudem waren weitere Verkehrszeichen, die auf die Baustelle und eine Baustellenausfahrt hinwiesen, aufgestellt.
Das Amtsgericht hat ferner festgestellt, dass dem Betroffenen die Geschwindigkeitsüberschreitung bewusst war und er diese billigend in Kauf genommen hat.
II.
Die Ausführungen, mit denen das Amtsgericht ein vorsätzliches Verhalten des Betroffenen begründet hat, begegnen jedoch durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Auf die neben der Sachrüge erhobenen Verfahrensbeanstandung kommt es somit nicht an.
1.
Der Betroffene hat über seinen Verteidiger die Fahrereigenschaft eingeräumt und erklären lassen, er "habe den Tempomat eingestellt gehabt und die gemessene Geschwindigkeit könne nicht stimmen" (UA S. 3).
Seine Annahme vorsätzlichen Verhaltens hat das Amtsgericht demgegenüber beweiswürdigend wie folgt begründet:
"Aufgrund der gut sichbaren Beschilderung, die in Form eines Geschwindigkeitstrichters (100 km/h - 80 km/h - 60 km/h) aufgestellt ist, geht das Gericht davon aus, dass der Betroffene das Verkehrszeichen wahrgenommen hat, zumal sich die Messstelle in einer Baustelle befindet, bei der mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung zu rechnen ist. Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte für eine abweichende Einschätzung vor. Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von vorliegend 22 km/h geht das Gericht davon aus, dass aufgrund der sensorischen Eindrücke, des Motorgeräusches, der Fahrzeugvibrationen und der Schnelligkeit, mit welcher sich die Umgebung verändert, der Betroffene die Geschwindigkeitsüberschreitung jedenfalls billigend in Kauf nahm. Dies gilt umso mehr, als die vorliegende Gefahrenstelle durch die weiteren, gut erkennbaren Verkehrszeichen (Gefahrenzeichen) beschildert war."
2.
Mit diesen Ausführungen hat das Amtsgericht ein vorsätzliches Verhalten des dies bestreitenden Betroffenen nicht hinreichend belegt.
a) Zwar kann der Bußgeldrichter in aller Regel davon ausgehen, dass ordnungsgemäß aufgestellte Verkehrszeichen von einem aufmerksamen Verkehrsteilnehmer auch bemerkt werden. Dies gilt jedoch nur dann, wenn der Betroffene nicht lediglich pauschal (vgl. Senat, Beschluss vom 03.02.2022 - 1 OWi 2 SsBs 113/21, juris Rn. 10) einwendet, das Verkehrszeichen übersehen zu haben oder andere greifbare Anhaltspunkte für ein solches Geschehen nicht vorliegen (Senat, Beschluss vom vom 14.04.2020 - 1 OWi 2 SsBs 8/20, juris Rn. 9). Denn dann muss der Bußgeldrichter durch auf den konkreten Fall bezogene Erwägungen begründen, weshalb er der Einlassung des Betroffenen nicht glaubt und davon ausgeht, dass der Betroffene das den konkreten Geschwindigkeitsvorwurf betreffende Schild wahrgenommen hat. Dem werden die Ausführungen des Amtsgerichts hier nicht gerecht.
b) Das Amtsgericht hat sich bereits nicht hinreichend mit der Einlassung des Betroffenen befasst, sondern das Vorliegen der kognitiven Vorsatzkomponente durch lediglich allgemeine Erwägungen (Geschwindigkeitstrichter ...