Entscheidungsstichwort (Thema)
Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Anerkennung von Führerscheinen
Leitsatz (amtlich)
Es ist zu erwarten, dass der Europäische Gerichtshof seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer Ausnahme von der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Anerkennung von Führerscheinen auch unter der Geltung des Art. 11 Abs. 4 RL 2006/126/EG aufrechterhalten wird.
Normenkette
RL 91/439/EWG Art. 1 Abs. 2, Art. 7, 8 Abs. 2, 4 UAbs. 2, Art. 9, 12 Abs. 3; RL 2006/126/EG Art. 2 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1a, Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2, Art. 12, 15; ZPO § 114; VwGO § 166
Tenor
Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 27. Mai 2010 – 10 L 231/10 – wird dem Antragsteller für das erstinstanzliche Verfahren vollumfänglich Prozesskostenhilfe – ohne Ratenzahlungen – unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. T… B… bewilligt sowie die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers – auch – hinsichtlich der unter Nr. 1 des Bescheids des Antragsgegners vom 5. März 2010 getroffenen Feststellung wiederhergestellt und hinsichtlich der unter Nr. 5 des Bescheids erfolgten Gebührenfestsetzung angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens fallen dem Antragsgegner zur Last.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,– EUR festgesetzt.
Gründe
1. Die zulässige Beschwerde gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts des Saarlandes, durch den das einstweilige Rechtsschutzbegehren des Antragstellers teilweise zurückgewiesen wurde, ist begründet.
Der die fehlende Berechtigung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen im Bundesgebiet feststellende Bescheid des Antragsgegners wird sich im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtswidrig erweisen, da er den Kriterien, die der Europäische Gerichtshof zur Auslegung des Art. 8 Abs. 4 UAbs. 2 RL 91/439/EWG entwickelt hat, nicht genügt.
Wie das Verwaltungsgericht zutreffend herausgearbeitet hat, legt der Europäische Gerichtshof die genannte Vorschrift in ständiger Rechtsprechung dahingehend aus, dass eine Verpflichtung zur Anerkennung einer von einem anderen Mitgliedstaat außerhalb einer Sperrfrist ausgestellten Fahrerlaubnis nur dann nicht besteht, wenn der neue Führerschein unter Missachtung des in der Richtlinie verankerten Wohnsitzerfordernisses ausgestellt worden ist. Ein solcher Ausnahmefall liegt nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht vor.
Dass dem Antragsteller seine außerhalb einer Sperrfrist erworbene tschechische Fahrerlaubnis unter Missachtung des Wohnsitzerfordernisses erteilt worden wäre, kann nach dem Stand des Verfahrens nicht angenommen werden. Im Führerschein selbst ist als Wohnsitz der tschechische Ort “Stribro” eingetragen, wobei dem Antragsgegner nach Aktenlage keine unbestreitbaren, aus dem Ausstellermitgliedstaat stammenden Informationen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH, Beschluss vom 9.7.2009 – C-445/08 –, DAR 2009, 637) vorliegen, die beweisen, dass der Antragsteller seinen ordentlichen Wohnsitz zum Zeitpunkt der Erteilung der Fahrerlaubnis nicht im Gebiet der Tschechischen Republik hatte.
Nach derzeitigem Verfahrensstand hängt die Beantwortung der Frage, ob der angefochtene Bescheid des Antragsgegners sich im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtmäßig erweisen wird, daher entscheidend davon ab, ob die in Bezug genommene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch hinsichtlich Führerscheinen, die nach dem 19.1.2009 in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt worden sind, Geltung beansprucht. Diese Frage ist aus Sicht des Senats zu bejahen. Es ist nämlich mit einem sehr hohen Grad an Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Europäische Gerichtshof seine zu Art. 8 Abs. 4 RL 91/439/EWG entwickelte Rechtsprechung unter der Geltung des Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 RL 2006/126/EG aufrecht erhalten wird.
Zunächst teilt der Senat die Auffassung des Verwaltungsgerichts, wonach u.a. Art. 11 Abs. 4 RL 2006/126/EG am 19.1.2009 in Kraft getreten ist. Auf die diesbezüglichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts wird Bezug genommen.
Die Prognose, dass der Europäische Gerichtshof seine Rechtsprechung zur Auslegung des Art. 8 Abs. 4 RL 91/439/EWG unter der Geltung der Richtlinie 2006/126/EG aufrecht erhalten wird, hat der Senat bereits anlässlich seines Beschlusses vom 23.1.2009 (OVG des Saarlandes, Beschluss vom 23.1.2009 – 1 B 438/08 –, AS RP-SL 2009, 139 ff.) im Rahmen ergänzender Erwägungen unter Hinweis auf die allein die Rechtsfolgenseite betreffenden Änderungen der neu gefassten Richtlinie als angezeigt erachtet, ohne sich allerdings vertiefend mit der Problematik auseinanderzusetzen.
Auch nach Dafürhalten des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes (HessVGH, Beschluss vom 4.12.2009 – 2 B 2138/09 –, BA 47, 154 ff.) und des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.2.2010 – 10 B 11351/09 –, juris) ergibt sich aus der Neufassung der Führerscheinrichtlinie nicht, dass die zu Art. 8 Abs. 4 RL 91/439/EWG ...