Gesetzestext
Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist.
A. Normzweck.
Rn 1
§ 189 liegt das Prinzip der Zweckerreichung zugrunde (BGH NJW 15, 1760 [BGH 12.03.2015 - III ZR 207/14]; BGH NJW 17, 2472 [BGH 29.03.2017 - VIII ZR 11/16] Rz 38). Entscheidend für die Wirksamkeit einer Zustellung soll sein, dass der Adressat oder sein Vertreter (§§ 170–172) Kenntnis von dem Schriftstück erhalten hat. Ist dies der Fall, soll es auf Formalitäten nicht ankommen und die Zustellung wird fingiert. Voraussetzung ist aber stets das Vorhandensein eines Zustellungswillens (vgl Rn 5). Ein Nachweis der Zustellung ist nicht Voraussetzung ihrer Wirksamkeit; daher führt § 189 insoweit nicht zu einer Fiktion der Zustellung, sondern hat lediglich Bedeutung für die Bestimmung des maßgeblichen Zustellungszeitpunkts.
B. Anwendungsbereich.
Rn 2
§ 189 ist weit auszulegen und gilt für alle Zustellungen (BGH NJW 22, 816 Rz 27), auch wenn dadurch Notfristen in Gang gesetzt werden (Karlsr WM 15, 1816, 1819; BAG NZA 15, 1331 Rz 22; anders § 187 S 2 aF). Heilung ist auch bei Zustellung im Parteibetrieb möglich (Dresd NJW-RR 03, 1721 [OLG Dresden 13.05.2003 - 11 W 586/03]), ebenso bei Auslandszustellungen, soweit Völkerrecht nicht entgegensteht. Im Anwendungsbereich des HZÜ sind Verstöße gegen Formvorschriften des Verfahrensrechts des Zustellungsstaats nach § 189 heilbar; dies gilt allerdings nicht, soweit bei der Zustellung Bestimmungen des HZÜ verletzt worden sind (s BGH NJW 11, 3581 [BGH 14.09.2011 - XII ZR 168/09] Rz 24 ff; BAG NZA-RR 14, 32 [BAG 18.07.2013 - 6 AZR 882/11 (A)] Rz 34). Das Fehlen einer im Fall der Auslandszustellung erforderlichen Fristsetzung gem § 339 II kann nicht geheilt werden (BGH NJW 11, 2218 [BGH 11.05.2011 - VIII ZR 114/10] Rz 14 f). Der Heilung nach § 189 sind alle Mängel des Zustellungsverfahrens, die zur Unwirksamkeit der Zustellung führen, zugänglich, insb auch Mängel des Zustellungsgegenstands (BGH NJW 22, 816 Rz 24). Deshalb wird eine fehlende Beglaubigung durch Zugang einer (inhaltlich mit der Urschrift übereinstimmenden) einfachen Abschrift geheilt (BGH NJW 22, 816 Rz 24; NJW 19, 1374 Rz 13; BGH NJW 16, 1517 Rz 14 ff; BGH WM 16, 2307 Rz 21 ff; NJW 17, 3721 Rz 17; KG 15.9.23 – 10 U 141/21; vgl auch MüKo/Häublein/Müller Rz 12; aA früher Karlsr NJOZ 15, 1024, 1026 f). Zu Abweichungen der zugestellten Abschrift von der Urschrift s § 169 Rn 4.
Rn 3
Weitere Heilungsmöglichkeiten sind die rückwirkende Genehmigung des Zustellungsadressaten, wenn an eine falsche Person zugestellt worden ist, und ein Rügeverzicht gem § 295, soweit die Verfügungsmacht der Parteien reicht (vgl BGH NJW 92, 2099, 2100 [BGH 13.04.1992 - II ZR 105/91]). Der Rügeverzicht wirkt allerdings bei (Klage-)Zustellungsmängeln grds nur ex nunc (vgl BGH NJW 96, 1531 f). Außerdem kann die Berufung auf eine fehlerhafte Zustellung rechtsmissbräuchlich sein, wenn der Zustellungsempfänger die Heilung des Zustellungsmangels bewusst verhindert hat. Schließlich kann die Zustellung erneut (mit Wirkung ex nunc) vorgenommen werden.
C. Tatbestandsvoraussetzungen.
I. Zugang.
Rn 4
Das Schriftstück muss auf irgendeine Weise derart in den Herrschaftsbereich (›in die Hand‹) des Zustellungsadressaten oder seines Vertreters (§§ 170–172) gelangt sein, dass er es behalten und von seinem Inhalt Kenntnis nehmen kann (vgl BGH MDR 20, 750 Rz 21; NZFam 20, 1031 Rz 9; NZG 20, 70 [BGH 12.09.2019 - IX ZR 262/18] Rz 31; BFH NJW 14, 2524 [BFH 06.05.2014 - GrS 2/13] Rz 65 ff; BGH NJW-RR 11, 417 [BGH 07.12.2010 - VI ZR 48/10] Rz 11; Frankf 30.12.13 – 21 U 23/11 Rz 48; KG GRUR-RR 11, 287). Tatsächliche Kenntnisnahme ist nicht erforderlich (BFH/NV 13, 809 [BFH 20.11.2012 - IX R 30/12] Rz 10). Ist ein ProzBev bestellt, kann Heilung des Mangels nur durch Zugang bei diesem, nicht durch Zugang bei der Partei eintreten (§ 172 Rn 1). Wird gegen Empfangsbekenntnis zugestellt, genügt zudem nicht der Zugang, zusätzlich ist Empfangsbereitschaft (§ 174 Rn 2) erforderlich. Der Mangel des Empfangswillens kann bei einer solchen Zustellung nicht durch den bloßen Nachweis des tatsächlichen Zugangs geheilt werden kann (BGH NJW 22, 1816 [BGH 11.02.2022 - V ZR 15/21] Rz 22; NJW-RR 15, 953 [BGH 13.01.2015 - VIII ZB 55/14] Rz 7, 12; s.a. BVerwG NJW 15, 3386 [BVerwG 27.07.2015 - BVerwG 9 B 33.15] Rz 5). Der Zugang bei einer Ersatzperson gem § 178 genügt nicht, weil diese nicht Zustellungsadressat ist.
Rn 4a
Für den tatsächlichen Zugang als Voraussetzung der Heilung eines Zustellungsmangels gem § 189 ist nicht der Zugang des zuzustellenden Originals erforderlich. Die erfolgreiche Übermittlung einer (elektronischen) Kopie in Form – bspw – eines Telefaxes, einer Fotokopie oder eines Scans ist ausreichend (BGH NJW-RR 18, 970 Rz 21, 28). Dies erfordert es, dass die gerichtliche Entscheidung zweifelsfrei – scho...