Gesetzestext
Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen keines Beweises.
A. Begriff.
Rn 1
Die Vorschrift stellt klar, dass offenkundige Tatsachen nicht beweisbedürftig sind. Sie können deshalb der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden, ohne dass ein besonderes Beweisverfahren und eine Beweiswürdigung stattgefunden haben. § 291 betrifft nur Tatsachen (§ 284 Rn 7), nicht aber Erfahrungssätze (BGHZ 156, 250, 252 = NJW 04, 1163, 1164: Verkehrsauffassung bestimmter Kreise; BGH MDR 21, 1283 Rz 22: Verhalten eines Interessenten beim Durchsuchen von Kleinanzeigen) oder gar Rechtssätze, selbst wenn sie im Einzelfall offenkundig sein sollten. Zu unterscheiden ist zwischen allgemeinkundigen und gerichtskundigen Tatsachen.
I. Allgemeinkundige Tatsachen.
Rn 2
Allgemeinkundig sind Tatsachen, die in einem größeren oder kleineren Bezirk einer beliebig großen Menge bekannt sind oder wahrnehmbar waren und über die man sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten kann (R/S/G § 113 Rz 25 im Anschluss an BVerfGE 10, 177, 183 = NJW 60, 31; vgl auch BGHZ 227, 1, 7 Rz 23). Dazu gehören etwa historische und politische Begebenheiten, geographische oder örtliche Verhältnisse, Börsenkurse, Unglücksfälle, Zahlenangaben in statistischen Jahrbüchern (BGH NJW-RR 93, 1122), der in der Fachpresse monatlich veröffentlichte Lebenshaltungskostenindex (BGH NJW 92, 2088, 2089; MDR 05, 534), die Nichtexistenz magischer Kräfte (LG Kassel NJW-RR 88, 1517; LG Aachen MDR 89, 63), die Verkehrsgeltung berühmter Marken (BGHZ 205, 22, 26 Rz 10 – Puma; München GRUR-RR 01, 303: adidas), Eintragungen im elektronischen Handelsregister (BGH MDR 23, 1124 f) oder die Lichtverhältnisse an einem bestimmten Tag (BGH NJW 07, 3211 [BGH 10.05.2007 - III ZR 115/06]; Hamm MDR 13, 1458 [OLG Brandenburg 27.08.2013 - 6 U 84/12]). Grds allgemeinkundig sind auch Erkenntnisse aus dem Internet, jedenfalls soweit sie ohne weiteres zugänglich und zuverlässig sind (Frankf NJW-RR 08, 1194 [OLG Stuttgart 21.04.2008 - 5 U 22/08] – Materialrecherche zu den Inhaltsstoffen von Bauplatten; Dresd NJW-RR 07, 1619 f [OLG Dresden 20.06.2007 - 13 W 165/07] – Regeln des Motocross-Dachverbandes; Köln MDR 16, 1266 [OLG Köln 25.05.2016 - 1 W 6/16] – Wert von Gegenständen; ArbG Siegen MMR 06, 836 [ArbG Siegen 03.03.2006 - 3 Ca 1722/05] – Recherche nach einer polnischen Telefonnummer; vgl dazu ausf Dötsch MDR 11, 1017 f; Greger FS Stürner 13, 292 f; Voß ZZP 135, 429 ff; zweifelhaft aber AG Köln NJW 11, 2979 [AG Köln 20.04.2011 - 201 C 546/10]: Einträge in Wikipedia; aA München NJW 19, 248 Rz 22: bestimmte Fahrzeugtypen iRd Dieselskandals; anders aber offenbar BGH NJW-RR 22, 499 [BGH 27.01.2022 - III ZR 195/20]; zu einer Internetrecherche ist das Gericht jedenfalls nicht verpflichtet, vgl Naumbg NJW-RR 12, 638). Nicht allgemeinkundig sind dagegen Umstände, die zwar allgemein bekannt, deren Wirkungen aber einzelfallbezogen sind (zutr Jäckel Rz 406; vgl auch den Fall Hamm MDR 21, 845 f – Anwendung eines ›Fußfegers‹ im Kampfsport). So ist zwar die Impulsartigkeit von Tennislärm allgemeinkundig, macht aber die Feststellung der konkret vorhandenen Belästigung nicht entbehrlich (Schlesw NJW-RR 91, 715, 716 [OLG Schleswig 20.12.1990 - 5 U 89/89]; anders wohl München MDR 04, 531 = OLGR 04, 167: Offenkundigkeit der Beeinträchtigung des Mietgebrauchs durch den Betrieb einer Ganztagsschule mit 450 Schülern im gleichen Gebäude). In diesen Fällen dürfte aber häufig ein Anscheinsbeweis eingreifen.
II. Gerichtskundige Tatsachen.
Rn 3
Gerichtskundig sind Tatsachen, die dem Gericht – entweder dem Einzelrichter oder der Mehrheit eines Kollegiums – aus seiner jetzigen oder früheren Tätigkeit in dienstlicher Eigenschaft bekannt geworden sind (Stackmann NJW 10, 1409). Dies können Erkenntnisse aus früheren Zivil- und Strafverfahren sein, aus Vorgängen der Freiwilligen Gerichtsbarkeit oder aus Angelegenheiten der Justizverwaltung, also etwa eine strafgerichtliche Verurteilung, das Ergebnis einer Beweisaufnahme eines früheren Verfahrens, die Erbenstellung einer Partei, die Existenz einer Betreuung, die Prozessunfähigkeit einer Partei, die Streichung eines Anwalts aus der Anwaltsliste, die Anerkennung einer Vaterschaft oder die Ablehnung der Insolvenzeröffnung mangels Masse (vgl Musielak/Voit/Huber Rz 2). Dazu reicht es allerdings nicht aus, dass der Richter die Tatsache selbst nie positiv gekannt hat, sondern sie nur aktenkundig ist, dh sie vom Richter nunmehr erstmalig festgestellt werden müsste (sog Aktenkundigkeit; vgl BGHZ 227, 1, 9 Rz 27; Ddorf NJW-RR 21, 252, 253 [BGH 16.12.2020 - VII ZB 46/18] Rz 13; St/J/Thole Rz 9; Anders/Gehle/Nober ZPO Rz 10; str, aA ThoPu/Seidel Rz 2; vgl auch Stackmann NJW 10, 1409, 1410 ff zu Erkenntnissen aus parallel geführten Massenverfahren). Anderenfalls wäre die Grenze zum Urkundenbeweis überschritten, der einen entsprechenden Beweisantritt einer Partei voraussetzt (zutr Musielak/Voit/Huber Rz 2). Sind dem Gericht die Aussagen von Zeugen aus einem früheren Verfahren bekannt, können sie gleichwohl nicht als gerichtsbe...