Prof. Dr. Christoph Thole
Rn 6
Die Gehörsverletzung bestimmt sich nach denselben Maßstäben wie der verfassungsrechtliche Begriff des Art 103 I GG, der sich nach hM in einem Mindestschutz erschöpft und nicht etwa Fälle offensichtlicher Unrichtigkeit von Entscheidungen einbezieht (BGH WRP 08, 956 f [BGH 13.12.2007 - I ZR 47/06] Rz 5; BGH, I ZR 112/17, BeckRS 19, 2252 Rz 4; BFH NJW 06, 861; Musielak/Musielak Rz 6; offenlassend BVerfG NJW-RR 08, 75, 76 [BVerfG 14.05.2007 - 1 BvR 730/07]; aA HK-ZPO/Saenger Rz 5). Danach kann eine für § 321a relevante Rüge nur vorliegen, wenn die Vorgaben des Art 103 I GG nicht gewahrt werden, nicht aber bei jeder Verletzung von Anhörungserfordernissen wie zB §§ 91a II 2, 17a II 1 GVG, § 7 I 3 KapMuG. Der Gesetzgebungsauftrag des BVerfG (Rn 1) bezog sich allein auf Verletzung des rechtlichen Gehörs und sollte offenbar auch nur insoweit umgesetzt worden (BTDrs 15/3606, 14). Diese Engführung entspricht dem Zweck, die Verfassungsbeschwerde zu entlasten, weil einfache prozessuale Fehler nicht rügbar sind, erklärt aber nicht hinreichend, warum andere Grundrechtsverstöße wie zB Verstöße gegen Art 101 I 2 GG (nicht: lediglich prozessuale Fehler) nicht ebenfalls von § 321a erfasst werden. Insoweit ist der Schritt zu einer analogen Anwendung bei Verletzungen anderer Verfahrensgrundrechte nicht mehr weit (dazu unten Rn 18). Wegen anderer Verstöße bleiben allerdings auch nach hM Gegenvorstellungen möglich (näher unten Rn 18; BSG NJW 06, 860 [BSG 28.07.2005 - B 13 RJ 178/05 B]; Zuck NJW 05, 1226, 1227; aA aber tendenziell BVerfG NJW 06, 2906, 2908).
Art 103 I GG statuiert Informationsbefugnisse und Stellungnahmerechte der Parteien sowie Kenntnisnahme- und Würdigungspflichten des Gerichts: Es hilft zu typisieren in Überraschungs- und Hinweisfälle und solche Fälle, in denen das Äußerungsrecht der Parteien verkürzt wird oder das Vorbringen nicht ausreichend gewürdigt wird (ähnl Musielak/Musielak Rz 6). Nicht in jedem Verfahrensfehler liegt aber eine Missachtung dieser Vorgaben, insb ist ein Verstoß gegen die richterliche Hinweis- und Aufklärungspflicht (§ 139 Rn 8 ff) und die Zurückweisung von Parteivorbringen nicht zwingend ein Verstoß gegen Art 103 GG (näher Einl Rn 44; BVerfGE 66, 116, 147; 67, 90, 95 f; 84, 188, 190; NJW 94, 848, 849, ausf Zuck NJW 05, 3753), ebenso wenig die fehlerhafte Rechtsanwendung im Allgemeinen oder generell eine ungerechtfertigte Annahme von Präklusion in Verkennung der §§ 296, 530, 531. Darin kann aber jeweils eine Verletzung des Art 103 I GG liegen.
Rn 7
Einzelheiten: So erkennt die verfassungsgerichtliche Rspr ein Verbot von Überraschungsentscheidungen (BVerfGE 84, 188, 190; 86, 133, 144; 98, 218, 263; 108, 341, 345 = NJW 03, 3687 [BVerfG 07.10.2003 - 1 BvR 10/99]; Zö/Feskorn Rz 10) ebenso an wie das Verbot, ohne vorherigen Hinweis im Urt Anforderungen an die Substantiierung eines Parteivortrags zu stellen (BVerfGE 84, 188, 190 [BVerfG 29.05.1991 - 1 BvR 1383/90]) oder die Entscheidung auf neue eingeführte, bisher nicht diskutierte rechtliche Gesichtspunkte zu stützen (BVerfGE aaO); keine Verletzung aber, soweit keine Hinweispflicht besteht (BGH 9.7.09 – II ZR 262/07, BeckRS 09, 21887: Kostenentscheidung). Gehörsverletzung liegt vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen eine gewissenhafte und kundige Partei auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht (BGH 17.5.18 – V ZR 98/17, BeckRS 18, 11729). Keine Hinweispflicht bzgl mangelnder Substantiierung besteht aber, wenn es sich um zentrale Fragen des Streits handelt und die Gegenpartei bereits auf fehlende Substantiierung hingewiesen wurde (BGH, 17.8.10, I ZR 153/08, BeckRS 10, 20762, Rz 5); anders wäre es mE, wenn sich aus dem Hinweis an die Gegenpartei in der konkreten Situation ein Vertrauen der Partei darauf ergibt, dass ihr Vortrag substanziiert genug ist. Überhaupt verletzten Untergerichte allerdings häufig die Substanziierungsanforderungen und kennzeichnen Parteivortrag vorschnell als nicht substanziiert. Darin kann ein Gehörsverstoß liegen (ebenso wie in der daraufhin unterlassenen Beweiserhebung): Die Angabe näherer Einzelheiten ist für die Partei nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind (näher BGH VersR 19, 835). Ein Anspruch auf ein Rechtsgespräch oder einen Hinweis auf die Rechtsauffassung des Gerichts und auf Aufklärung im Allgemeinen durch das Gericht besteht aber nicht (BVerfGE 86, 133, 144 f [BVerfG 19.05.1992 - 1 BvR 986/91] = DtZ 92, 327; 96, 189, 204 = NJW 97, 2305, 2307 [BVerfG 08.07.1997 - 1 BvR 1934/93]; BVerfGE 108, 282, 339 [BVerfG 24.09.2003 - 2 BvR 1436/02] = NJW 03, 3111, 3122) und auch kein Anspruch auf Mitteilung der gerichtlichen Rechtsauffassung (BGH GRUR-RS 21, 27895 Rz 7), wohl aber kann das Übergehen eines Antrags nach § 495a 2 eine Gehörsverletzung sein (BVerfG NJW 12, 2262 [BVerfG 05.04.2012...