Rn 60
Eng mit dem Umfang der Vertretungsmacht hängt die Frage zusammen, ob von mehreren Vertretern jeder allein (Einzel- oder Solidarvertretung) oder ob alle bzw einige von ihnen nur in Gemeinschaft (Gesamt- oder Kollektivvertretung) vertretungsberechtigt sind. Der Umfang der Vertretungsmacht betrifft die objektive Seite (Welches Rechtsgeschäft ist umfasst?) und die Frage nach der Einzel- oder Gesamtvertretung die subjektive Seite (Wer hat Vertretungsmacht?) der Vertretungsmacht (Bork Rz 1566).
a) Zweck und Erscheinungsformen.
Rn 61
Die Funktion der Gesamtvertretung besteht darin, durch gegenseitige Kontrolle (Vier-Augen-Prinzip) treuwidrigen Rechtsgeschäften vorzubeugen und die Kompetenz der Vertreter in ihrer Gesamtheit zu bündeln (Staud/Schilken § 167 Rz 53). Von einer ›unechten‹ oder ›gemischten‹ Gesamtvertretung spricht man, wenn ein Gesellschafter, Vorstand oder Geschäftsführer nur zusammen mit einem Prokuristen vertretungsberechtigt ist (s §§ 124 III HGB; 78 III AktG). Sie wird als ›halbseitig‹ bezeichnet, wenn nur ein Vertreter an die Mitwirkung des anderen gebunden ist (BGHZ 62, 166, 169 ff).
b) Entstehungsgrund.
Rn 62
Die Gesamtvertretung kann auf Rechtsgeschäft (Gesamtvollmacht) oder Gesetz beruhen (MüKo/Schubert Rz 194). Gesetzlich vorgesehen ist sie im Familienrecht (§§ 1629 I 2, 1775 I, 1792 I, 1908i I 1, 1915 I). Sie ist ferner die Regel bei mehrgliedrigen Organen juristischer Personen (§§ 78 II AktG; 35 II 2 u 3 GmbHG; 25 II 1 GenG) und bei der GbR (§§ 709, 714 aF, ab 1.1.24 §§ 15 I, 720 I). Abw davon kann bei einer GmbH die Befugnis zur Vertretung der Gesellschaft durch Satzungsregelung einzelnen oder mehreren Organen allein erteilt werden (BGH NJW 07, 3287f [BGH 19.03.2007 - II ZB 19/06]). An einem wirksamen Vertrag mit der Gesellschaft kann es aber fehlen, wenn der einzelvertretungsberechtigte Gesellschafter von seiner Einzelvertretungsbefugnis keinen Gebrauch gemacht hat, etwa wenn der Vertrag mit einer GbR für den Geschäftsgegner erkennbar von mehreren Gesellschaftern abgeschlossen werden soll (BGH NJW-RR 08, 1484 [BGH 19.06.2008 - III ZR 46/06] Rz 26). Bei der OHG und der KG besteht grds Einzelvertretungsmacht, die Gesamtvertretung ist auf rechtsgeschäftlicher Grundlage aber ausdrücklich zugelassen (§§ 124, 161 II HGB). Das Gleiche gilt für die Gesamtprokura (§ 48 II HGB). Hat der Vollmachtgeber mehrere Personen bevollmächtigt, ist durch Auslegung der Vollmachtserklärung gem §§ 133, 157 zu ermitteln, ob Einzel- oder Gesamtvertretungsmacht gewollt ist (Staud/Schilken § 167 Rz 52).
c) Ausübung bei der aktiven Stellvertretung.
aa) Nachgeschaltetes Vertreterhandeln.
Rn 63
Handeln Gesamtvertreter in aktiver Stellvertretung, müssen sie grds, wenn auch getrennt voneinander, übereinstimmende Erklärungen ggü dem Vertragspartner abgeben. Ein ex nunc wirksames Vertretergeschäft liegt erst mit der letzten Erklärung vor (Staud/Schilken § 167 Rz 53). Nach einer vordringenden Ansicht müssen die Gesamtvertreter jedoch nicht an der gemeinsamen Erklärung festhalten, bis der letzte seine Erklärung abgibt (Staud/Schilken § 167 Rz 53; aA Soergel/Leptien Rz 29). Handeln alle Gesamtvertreter, müssen bei jedem die Wirksamkeitsvoraussetzungen der Willenserklärung vorliegen (Staud/Schilken § 167 Rz 53), dh dass die Willenserklärung eines jeden Gesamtvertreters der Form genügen muss (Bork Rz 1444) und dass ein Willensmangel jedes einzelnen von ihnen beachtlich ist (s § 166 Rn 2). § 139 ist nicht anwendbar (BGHZ 53, 210, 214f). Wirken nicht alle Gesamtvertreter an dem Rechtsgeschäft mit, ist das Vertretergeschäft schwebend unwirksam. Sowohl die anderen ausgeschlossenen Gesamtvertreter (s Rn 64) als auch der Vertretene können das Rechtsgeschäft gem § 177 I genehmigen. Andernfalls haftet der handelnde Vertreter nach § 179 (Bork Rz 1442). Das gilt jedoch dann nicht, wenn jemand offen als Gesamtvertreter auftritt und zu erkennen gibt, dass weitere Gesamtvertreter noch entspr Erklärungen abgeben müssen. In einem solchen Fall treten weder für den Vertretenen noch für den allein handelnden Gesamtvertreter Rechtsfolgen ein, weil bereits ein gemeinsamer Erklärungstatbestand fehlt (Bork Rz 1439f). Str ist, ob der Vertretene das Vertretergeschäft gem § 177 genehmigen kann, wenn die Willenserklärung eines Gesamtvertreters nichtig ist (dafür BGHZ 53, 210, 214; Soergel/Leptien Rz 29). Hiergegen spricht, dass auch in diesem Fall ein vollständiger Erklärungstatbestand nicht vorliegt (Bork Rz 1443).
bb) Handeln eines Gesamtvertreters mit Zustimmung der anderen.
Rn 64
Es müssen nicht alle Gesamtvertreter nach außen auftreten. Zur Erleichterung des Geschäftsverkehrs genügt es, wenn nur ein Gesamtvertreter an dem Vertretergeschäft formgerecht mitwirkt und der andere hierzu analog §§ 177, 182 I ausdrücklich oder konkludent seine Zustimmung erteilt (BGH NJW 10, 861 [BGH 16.12.2009 - XII ZR 146/07] Rz 23; ZfBR 03, 250, 251 [BGH 28.11.2002 - VII ZR 270/01]). Die nachträgliche Genehmigung des anderen Gesamtvertreters bedarf gem §§ 167 I, 182 II nicht der Form des Vertretergeschäfts (BGH NJW 04, 2382, 2384) und der Zustimmende braucht auch nicht alle Einzelheiten des Vertretergeschäfts zu kennen (MüKo/Schubert Rz 201). Die hM fordert, dass...